Die Tage in Stockholm sind kurz. Je mehr sich das Tageslicht zurückzieht, desto stärker halten die Schweden dagegen. In der Dunkelheit leuchtet die Stadt der 14 Inseln am Mälarensee: Weihnachtssterne, Lampen, Rentiere und Kerzenleuchter erhellen von den Fenstern aus die Nacht. Wer zu Hause ist, macht Licht. Vorhänge würden nur stören, deswegen wird großflächig auf sie verzichtet.
Auch die Schwedische Akademie, eine der elitärsten und undurchsichtigsten Organisationen im sonst so auf Transparenz bedachten Schweden, verzichtet auf Gardinen an diesem zweiten Adventsamstag. Draußen am Stortorget, dem zentralen Platz von Gamla stan, stehen die Besucher und ordern an den rot getünchten Hütten des Weihnachtsmarktes vor den wie Spalier stehenden bunten Häuserfassaden gebrannte Mandeln, Glögg oder Lebkuchenherzen, auf die „God Jul“ („Frohe Weihnachten“) gespritzt wurde. Der Zuckerpegel ist hoch dieser Tage: Rot-weiß-rote Polkakuddar oder Fruktspån – wegen ihres hundertprozentigen Zuckergehalts wohl Hassobjekte von Zahnärzten – haben Saison.
Hinter den dicken Mauern vom Stortorget hält Peter Handke, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2019, nach seiner Kollegin Olga Tokarczuk, der Preisträgerin 2018, im zweiten Stock des wichtigsten Hauses am Platz in feierlicher Atmosphäre unter Lustern und vergoldetem Stuck seine Rede: vielsprachig – zum Finale rezitiert er sogar auf Schwedisch das Gedicht „Romanska bågar“ des schwedischen Lyrikers und Literaturnobelpreisträgers Tomas Tranströmer.
Handke liest langsam, bedächtig. Er verleiht den geschriebenen Worten über die biografischen Quellen seines Schreibens eine berührende Wucht. Als er eine „Begebenheit“ von einem Kind erzählt, das seiner leiblichen Mutter, einer „geistesschwachen“ Magd, weggenommen wurde, kämpft er mit der Fassung. Er gönnt sich eine Pause, schluckt hörbar, bevor er weiterliest.
Auf eine versöhnliche Geste oder einen Kommentar zu der Kritik zu seiner Person oder einer Erklärung zu seiner Haltung zum Jugoslawienkrieg und zum Völkermord von Srebrenica verzichtet er wie schon einen Tag davor bei der Pressekonferenz. Einige Reporter stehen vor seiner Rede unten im Regen beim unscheinbaren Eingang in der Källargrand 4. Sie warten vergebens – sowohl auf den großen Protest als auch auf „Spaltpilz“ Handke.
Ein einzelner Demonstrant wurde gesichtet. Die Polizisten – deutlich in der Überzahl – schickten ihn weg. Für den Dienstag, den Tag der Verleihung, haben bosnische Kriegsopferverbände wie die „Mütter von Srebrenica“ jedoch Protestaktionen angekündigt.
Derweil wirkt die bitterkalte, nordische Weihnachtsstimmung routiniert, im Nobelpreisfieber ist Schwedens Hauptstadt noch nicht. Rund um den Stortorget, wo das Nobel Museum, das Vermächtnis Alfred Nobels, dokumentiert ist, werden Reporter mit oder ohne Fernsehkameras gesichtet.
Freitags, wenn der Eintritt in dieses Haus frei ist, drängeln sich die Massen. „Mehr los ist wegen der Nobelpreiswoche eigentlich nicht“, sagt der Mann an der Kassa. „Wenn aber jemand nach den aktuellen Preisträgern fragt, dann nach Handke“, sagt er. Oder nach dem von ihm signierten Sessel, der noch zum Trocknen im hinteren Teil des Museums hängt, bevor man ab Dienstag auf ihm Platz nehmen kann. Und während die Schweden souvenirtechnisch nicht mit Kitsch geizen und die Mitglieder der royalen Familie von vielen Kaffeehäferln, Postkarten und Wettex-Lappen lacht, tuckert die Marketingmaschine um die Konterfeis der Nobelpreisträger eher gemächlich.
Im Museum werden in Goldfolie gewickelte Schokotaler mit Nobels Konterfei um 15 Schwedische Kronen (rund 1,5 Euro) pro Stück verscherbelt. Ein bisschen nobler (175 Kronen) ist die berühmte „Nobel Ice Cream“ – ein in Schichten arrangiertes Dessert mit Zuckerwatte, Himbeere und weißer Schoko.
Die Bücher der Preisträger werden nach Bekanntgabe in einheitlicher Optik nachgedruckt. Manchmal müssen sie wohl erst ins Schwedische übersetzt werden.
In der bekanntesten Kette, Akademikbokhandeln, liegen die Bücher Peter Handkes nur vereinzelt auf. In der Mäster Samuelsgatan, in einem der größten Läden gleich neben dem renommierten Kaufhaus Nordiska Kompaniet geht ein winziges Schild mit noch winzigeren Fotos der beiden Laureaten im Weihnachtstrubel zwischen Standl, Weihnachtspop und Eislaufplatz fast unter.
"Wegen der vielen Kontroversen"
Der Stoß der Bücher der beiden Preisträger steht gleich beim Eingang, strategisch gut in der Nähe der Kassa. Das Weihnachtsgeschäft brummt, viele Kunden stellen sich an. Von Olga Tokarczuk liegen mehr Werke auf. Sind die von Peter Handke schon weg? „Ich denke, ihre Bücher verkaufen sich besser“, sagt Buchhändlerin Matilda Blondeel. Nachsatz: „Wegen der vielen Kontroversen um ihn.“ Die Buchtitel auf Schwedisch sind kaum wiederzuerkennen: „Långsam hemkomst“ („Langsame Heimkehr“) liegt auf, „Berättelse om ett liv“ („Wunschloses Unglück“) oder „Målvaktens skräck vid straffspark“ („Der Angst des Tormanns beim Elfmeter“).
Peter Handkes „Toalattpapper“-Spruch ist Gesprächsstoff, sein Schweigen zu Srebrenica und seine Medienschelte auch. Und während sich bereits mehrere Mitglieder der Schwedischen Akademie zurückgezogen haben oder die Entscheidung für seine Kür nicht mittragen, redet kaum noch jemand über die krisengebeutelte Akademie oder ihren Missbrauchsskandal. Ein Aufreger ersetzt den anderen, Interviewfragen werden abgeschmettert. Auch das eine Erfahrung bei dieser winterlichen Reise zum Mälaren.