Was soll Peter Handke tun? Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ hat das Nobelpreiskomitee in einem offenen Schreiben aufgefordert, von ihm eine Entschuldigung zu verlangen. Bei wem und wofür Handke um Entschuldigung bitten soll, geht aus diesem Passus hervor: „Mit Handke soll ein Genozidleugner und Apologet von Kriegsverbrechern vor den Augen der ganzen Welt in einer feierlichen Zeremonie mit dem Literaturnobelpreis geehrt werden. Es ist den Angehörigen der Opfer schwerster Verbrechen in Srebrenica oder anderswo in Bosnien nicht zuzumuten, dass er sie weiter verhöhnt.“
Ist es angemessen, Handke als einen „Genozidleugner“ zu bezeichnen? Mir ist von ihm keine einzige Stelle bekannt, in der er Verbrechen in Bosnien oder anderswo grundsätzlich in Abrede stellt. Zudem hat Handke spätestens seit 2006 wiederholt festgehalten, dass es sich „bei Srebrenica um das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.“
Diese relativ eindeutigen Sätze sowie die lange Liste an Belegstellen, die der Suhrkamp-Verlag in seltsamerweise nur auf Englisch veröffentlichten „Clarifications“ zusammengestellt hat, reichen seinen Gegnern nicht. Sie sagen (und auch dafür gibt es Belege), dass Handke Srebrenica des Öfteren als ein „Rachemassaker“ bezeichnet hat und es nur innerhalb von Bedingungen einer vermeintlichen Vorgeschichte sieht, die, so wie er sie darstellt, unhaltbar ist. Handke habe zudem bisher die Bezeichnung „Genozid“ vermieden, zumindest in jener Verwendung, in der sie derzeit von Gerichtsentscheiden als die einzig zutreffende angesehen wird, nämlich als Bezeichnung allein für Verbrechen an der bosnischen Bevölkerung.
Rechtfertigt das die Bezeichnung „Genozidleugner“? Ich meine, sie ist denunziatorisch. Tatsächlich traue ich aber einigen jener Exponenten, die sich in den letzten Wochen gegenüber Handke mit absolut bombensicheren Urteilen hervorgetan haben, auch durchaus zu, dass sie mit ihm erst dann zufrieden wären, wenn er sich zu folgenden Sätzen durchringen könnte: „Srebrenica war ein Genozid. Punkt. Sonst gab es in den ganzen Jugoslawienkriegen keinen zweiten Völkermord. Damit ist alles gesagt.“ Das wäre ein Ende ganz nach dem Geschmack aller Nationalismen, die es in der Region außerhalb des serbischen gibt.
Zweiter Punkt: Hat Handke (bosnische) Opfer verhöhnt? Fest steht, dass manche oder viele sich von ihm, seinen Äußerungen und Gesten, verhöhnt fühlen. Eine Mutter aus Srebrenica, die mit einigen anderen seit mehreren Wochen jeden Dienstag in Stockholm protestiert, wurde mit einem Satz zitiert, in dem es sinngemäß heißt, dass sie die Vergabe des Nobelpreises an diesen Autor in diesen Tagen als schmerzvolleres Ereignis erlebt als die Tötung ihrer Angehörigen. Solche Emotionen sind erschütternd. Wie aber soll ein Mensch es aushalten, ad personam als eine noch schrecklichere Erscheinung dargestellt zu werden als die realen Täter? Was soll Peter Handke, was kann da überhaupt jemand tun?
Der bosnische Autor Dževad Karahasan, der nicht nur ein glanzvoller Schriftsteller ist, sondern alle Worte, die er wählt, mit Bedacht setzt, hat den kritischen Punkt im Werk Handkes schon knapp nach Erscheinen des „Sommerlichen Nachtrages“ (1996) benannt. Es finde sich in diesem Text kein Wort des Mitgefühls für die bosnischen Opfer. Dabei ist Handke an den Orten, die er aufsucht, beispielsweise in Visegrád, ganz nahe an den Verbrechen dran.
Handke leugnet diese Verbrechen nicht, stellt aber die vermeintliche Wahrhaftigkeit infrage, die die internationalen Medien herstellen, indem sie auf der Grundlage von Zeugenaussagen, dabei aber in „miesliterarischer“ Art, darüber berichteten. Einer dieser „Manhattan-Journalisten“ lässt eine Zeugin, die sah, wie Mutter und Schwester ermordet und von der Brücke in die Drina gestürzt wurden, am Ende seines Berichts sagen: „The bridge. The bridge. The bridge ...“ Der Einwand von Karahasan wiegt dennoch schwer. Gerade in der emotionalen Zuwendung zu den Opfern gäbe es für Handke einiges zu tun.
Im Übrigen stimmt es nicht, dass der Autor einerseits ein großartiger Schriftsteller ist, andererseits aber politisch vollkommen unbedarft. Gerade zu Beginn der „Winterlichen Reise“ führt er sich die Gefahr vor Augen, die sein literarischer Ansatz birgt. Dieser besteht darin, vor Ort „dritte Dinge“ zu erkunden und diese dann als „Nebensachen“ dem „Einhämmern der Hauptfakten“ an die Seite zu stellen, das aus Handkes Sicht von vorwiegend anti-serbischen Medienbildern dominiert wird. Im Text heißt es: „Was, willst du etwa die serbischen Untaten, in Bosnien, in der Krajina, in Slawonien, entwirklichen helfen durch eine von der ersten Realität absehende Medienkritik?“
"Die morawische Nacht"
Peter Handke ist in den nachfolgenden Jahren mit vielen seiner Gesten und Äußerungen, die er Seite an Seite mit extremen Exponenten des serbischen Nationalismus setzte, haargenau in diese Falle gerannt. Sehr viel Differenzierungsvermögen hat die Debatte um ihn aber auch nicht entwickelt. Die großen Erzählungen aus seinem Jugoslawien-Korpus wie „Die morawische Nacht“ hat man bislang mit keinem Wort erwähnt. Gerade auch diese Texte machen klar, dass es dem Antrieb nach ein Friedensprojekt ist, das der Autor verfolgt und von dem mittlerweile gesagt werden kann, dass er damit nach außen spektakulär gescheitert ist.
Derzeit vermögen die Medien in der „Causa“ Handke kaum noch etwas Neues zu liefern. Teilweise verfallen auch seriöse Zeitungen in den Gestus eines Aufdeckungsjournalismus, bei dem man doch zumindest ahnen könnte, dass er dieser Sache völlig inadäquat ist. Auch boulevardeske Mittel kommen, nicht allein im Boulevard, immer stärker zum Einsatz.
Ein Beispiel dafür ist neben den Schnüffeleien in Handkes Religionszugehörigkeit die Berichterstattung über seinen jugoslawischen Reisepass. Nicht aus der Tatsache, dass ein Scan dieses Passes seit Jahren frei zugänglich im Netz hängt, wurde hier journalistisch eine Sensation gemacht, sondern ein Skandal aus dem Fakt, dass dieser Pass dann einmal für zwei Stunden von der Forschungsplattform Handkeonline genommen wurde. Einfach deshalb, weil der Besitzer des Dokuments bei Handke nachfragen wollte, ob es denn okay sei, dass er dort liegt. Handke hat dazu sofort Ja gesagt.
Uberhaupt ist dieser Autor in einer vielleicht wirklich „naiv“ zu nennenden Form gewillt, alles an sich selbst sowie, was sein Werk und seine Person betrifft, öffentlich zu machen. Wie ein Hohn auf diese Offenheit wirkt es, wenn nunmehr ein amerikanisches Internetforum Mitarbeiter des Suhrkamp-Verlages zum Whistleblowing aufruft. Was erwartet man sich? Ein Nichts wird hier zu einem Etwas aufgeblasen und dabei unterstellt, dass dieser Autor noch viel mehr Dreck am Stecken hat.
Endet die Debatte wirklich nur in solchen grotesken Verzerrungen heutiger Medienwirklichkeit? Wahrscheinlich endet sie an Übersättigung und Desinteresse. Dass sich bislang in dieser Causa kaum ein Ansatz zu einer respektvollen Diskussion und wirklicher Gesprächsbereitschaft zeigte, hat aber möglicherweise noch einen anderen Grund.
Katja Gasser, die Literaturexpertin des ORF, hat es in ihrer Rede zur Entgegennahme des vom Bundeskanzleramt vergebenen Staatspreises für Literaturkritik vor Kurzem auf den Begriff der „Verwerflichkeit“ gebracht. Verwerflich ist es, ausschließlich zum eigenen Vorteil oder allein mit politischem Hintergrund Dinge auch gegen besseres Wissen zu behaupten. Aufrichtige Gespräche beginnen jenseits der Verwerflichkeit. Und im Fall Handke wahrscheinlich erst dann, wenn die großen und breitenwirksamen Medien von ihm endgültig genug haben.
Klaus Kastberger