Es müssen nicht immer 600 Seiten für eine Geschichte sein: Der Band "Blutige Nachrichten" umfasst vier Stephen King Storys, die eindrucksvoll zeigen, dass der Meister der Horrorliteratur auch im Novellen-Format sein Handwerk beherrscht. Geboten wird klassischer King. Mit einer Geschichte beweist der Autor, dass er aus seinen gewohnten Formaten ausbrechen und sich trotzdem treu bleiben kann.
Fans werden "Blutige Nachrichten" - ab heute, Montag, im Handel - vermutlich vor allem wegen der Titelgeschichte, der längsten des Buches, freudig erwarten. Denn King bietet ein Wiedersehen mit seiner Romanfigur Holly Gibney, bekannt aus "Mr. Mercedes", "Mind Control" und "The Outsider". Zugleich knüpft er an den letztgenannten Bestseller an. "Ich liebe Holly", schreibt King im Nachwort. Diese Zuneigung zu seinem Charakter spürt man im nun ersten Solo-Abenteuer der Figur - ein Suspense-Thriller mit Schockelementen, ein typischer King-Page-Turner, bei dem gleich im ersten Kapitel die Spannung hochgeschraubt wird, weil es ein böses Ende suggeriert. Der 72-Jährige spielt gekonnt mit den Nerven seines Publikums, wenn Holly etwa ein Date mit dem Bösen hat, aber im Stau steht. Da will man beim Lesen auf die Hupe drücken...
Ein Telefon im Grab, das Wünsche erfüllt
"Mr. Harrigans Telefon" ist eine Mischung aus Coming-Of-Age- und Gruselgeschichte. Viel Zeit nimmt sich King hier für seine Charaktere, bevor es unheimlich wird (bis ein Telefon in einem Grab Wünsche erfüllt, die man lieber nicht hegen sollte). "Geschichten entwickeln sich so, wie sie wollen", erläutert King, "aber der wahre Spaß an dieser war - für mich - die Rückkehr in eine Zeit, wo Mobiltelefone im Allgemeinen und das iPhone im Besonderen nagelneu waren." Den Spaß teilt man beim Schmökern. King wäre nicht King, würde er nicht durch die Blume, also durch eine seiner Figuren, ordentlich ätzen. So lässt er einen Unternehmer im Ruhestand über gratis Content im Internet sagen: "... wenn man den Leuten zu viel umsonst überlässt, ... erwarten sie, dass es immer so weitergeht."
Bei "Ratte" mag King wohl ein wenig auf eigene Erfahrung zurückgegriffen haben, denn hier geht es um einen Schriftsteller. Dieser unterscheidet sich allerdings gewaltig vom unglaublich produktiven echten Kollegen aus Maine, der fast regelmäßig jährlich ein bis zwei Werke herausbringt. Der fiktive Autor will nach gescheiterten Anläufen endlich seinen ersten Roman schreiben. Dabei geht er einen faustischen Pakt ein, an dessen Folgen er fast verzweifelt, am Ende aber den Ruhm dem Skrupel vorzieht - King weiß eben, dass nicht nur Geister böse sind.
Das Juwel der Sammlung nennt sich "Chucks Leben", eine zunächst dystopisch anmutende Schauermär, die sich in Folge als philosophisch-melancholische Betrachtung des Lebens an sich entpuppt. Hier geht King einen ungewöhnlichen Weg: Er setzt das letzte der drei Kapitel der Geschichte an den Anfang und das erste an das Ende. Der Ausbruch aus gewohntem erzähltechnischen Muster funktioniert hervorragend und fordert heraus. Das typisch übersinnliche Element fehlt dennoch nicht. Aber mit drei der vier gebotenen Novellen untermauert der Mann, der mit "Es" und "Friedhof der Kuscheltiere" Gänsehaut verbreitet hat, dass er längst mehr als ein Meister der Horrorliteratur ist.
Wolfgang Hauptmann/APA