Annie Ernaux geht bevorzugt dorthin, wo es wehtut – an die Bruchstellen ihrer eigenen Biografie. Nicht umsonst bezeichnet sich die Französin als „Ethnologin ihrer selbst“. Das mag nach Einzelschicksal klingen, das sich in den Vordergrund drängt, aber weit gefehlt: Ihre Befunde, ein intensives Abtasten und Hinterfragen der eigenen familiären Lebensläufe, sind Milieustudien. Das, was ihr mikroskopischer Blick durch das Brennglas erfasst, lässt sich auf den gesellschaftlichen Makrokosmos übertragen. Nach „Der Platz“, „Eine Frau“, „Die Scham“ und „Die Jahre“, blickt Ernaux in „Das Ereignis“ auf rund drei Monate ihres studentischen Lebens zurück. Eine kurze Zeit, die sich jedoch wie ein Schatten in ihr weiteres Leben geschlichen hat: „Seit Jahren umkreise ich dieses Ereignis in meinem Leben“.
Wir schreiben das Jahr 1963 und die Studentin Annie wird schwanger. Eine Schwangerschaft, die nicht nur ihre Zukunftsvision vom Studium und dem erhofften gesellschaftlichen Aufstieg bedroht, sondern gleichsam auch den Lebenstraum der Eltern gefährlich ins Wanken bringt: Die erfolgreiche Erzählung von einem beständigen Aufstieg – vom Fuhrmann und einer Weberin, die es zu Ladenbesitzern brachten und ihrer Tochter ein Studium ermöglichten: „Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs.“ Das, was sich überdies zuzieht, ist nicht weniger als die Schlinge, die einem die Gesellschaft umhängt: Das Stigma von der liederlichen Frau, die sich nicht an gesellschaftliche Normen halten kann. Hinzu kommt, dass der Abbruch einer Schwangerschaft zu dieser Zeit strafbar ist.
All das prasselt auf die junge Studentin ein, die mit einem Schlag aus ihrer Lebens-Blase gerissen wurde: „Es gab die anderen Mädchen mit ihren leeren Bäuchen und es gab mich“. Ernaux lässt ihre Leserinnen und Leser an diesen drei Monaten teilhaben. Zunächst an der Erkenntnis, dass das Leben vor einer 180-Grad-Wende steht und man als Frau zu dieser Zeit nicht Teil einer Multioptionsgesellschaft ist. Unweigerlich folgt die Abtreibung – die Suche nach einer „Engelmacherin“, und das bewusste Überhören ihrer stummen Hilferufe durch die Ärzte. Die Abtreibung schildert die heute 81-Jährige in klinisch, beinahe distanzierter Sprache einer Beobachterin. Das tut der Wucht der Erzählung keinen Abbruch, sondern entkoppelt sie von einem individualisierten Erlebnis, hebt sie auf eine allgemeingültige Ebene – und nimmt so dem Leser jegliche Fluchtmöglichkeit vor der maximalen Betroffenheit.
Dass dieses „Ereignis“, wie Ernaux es mit bewusster Distanz benennt, sich auch 60 Jahre danach so ereignen könnte, zeigt sich aktuell am strengen Abtreibungsgesetz in Texas. Mit der Verfilmung des Buches hat Regisseurin Audrey Diwan zuletzt in Venedig den Goldenen Löwen geholt.