Ich bin das freundliche Ploppen, wenn ein Apfel ins Gras fällt, bin Monster, Märtyrer, Nichts, Form der Unmöglichkeit, Strudel und Projektion, ein Gedicht, das man aufsagt, ohne es zu verstehen. Oder ein Zookrokodil. Alles fließt und flutet in das schöne Wort Nil“ So lautet eine markante Schlüsselpassage in Anna Baars neuem, uferlosen Roman „Nil“.

Es ist ein dämonisches, durchtriebenes Werk, das nicht nur die Grenzen der Erzählkunst auslotet, sondern sie mühelos immer wieder durchlöchert – radikal, rigoros, verstörend und rätselhaft. Trotzdem ist dieses Buch ein Glücksfall, eine Neuvermessung der Literaturlandschaft, die nur in die völlige Ungewissheit führen kann.

Fortsetzung folgt nicht

Dabei beginnt „Nil“ trügerisch harmlos. Eine Autorin, Geschichtenerfinderin, wird vom Chefredakteur eines Frauenmagazins aufgefordert, eine Fortsetzungsstory sofort abzuschließen. Lakonischer Nachsatz: Notfalls könne das darin vorkommende Paar ja von einer Klippe springen.  Rasch wird die Ich-Erzählerin vom Horror befallen, dass sich das von ihr Geschriebene in Wahrheiten verwandeln und sich ihre Figuren in leibhaftige Gestalten verwandeln könnten: „Am Ende trifft alles zu, gerade das Ausgedachte“. Was folgt, ist ein Dämonentanz von Marionetten, die ihrerseits alle Schnüre zur Erzählerin kappen. Die Schritte der Figuren führen in kafkaeske, surreale, anscheinend absurde Episoden.

"Einsagerin"

Mitunter erweckt diese wunderbar unberechenbare Autorin den Eindruck, alles sei ihr entglitten. Aber auch dies ist nur ein schaurig-virtuoses Spiel mit dem Schein, mit dem konsequenten Vermengen von ohnedies brüchiger Realität und Erfundenem, mit dem Auflesen von Fragmenten der Erinnerung. Über allem aber steht die Gleichzeitigkeit. Darauf verweist auch eine mehrmals auftauchende Uhr, deren Zeiger stets zwei Minuten vor Zwölf zuckend ausharren.

„Nil“ umfasst vier Abschnitte, einer davon birgt eine Liebesgeschichte. Der darin auftauchende Mann heißt, wenig überraschend, Neal. Ein mysteriöser Fotoautomat mündet in eine Kneipe, in der eine „Einsagerin“ wartet, um das Geschehen voranzutreiben, das in Wahrheit keinen Anfang und kein Ende kennt. Und so wird denn auch „Nil“ zu einer Metapher für einen tiefgründigen, uferlosen Erzählfluss, der aus der Gedankenkammer herausströmt ins Offene, Albtraumhafte - aber traumwandlerisch sicher.


Anna Baar. "Nil". Wallstein Verlag, 148 Seiten, 20,60 Euro.