Es gibt Bücher, die beglücken auf allen Ebenen. Sie sind literarisch hochwertig, fulminant und funkelnd geschrieben; sie sind klug, aber nicht intellektuell aufdringlich. Sie erzählen Menschengeschichten und Epochengeschichte. Sie fordern den Leser und fördern dessen Denk- und Fühlbeweglichkeit. „Der Mann im roten Rock“, das neue Buch von Julian Barnes, enthält all diese Ingredienzien. Und noch viel mehr.
Ausgehend von der schillernden Figur des Dr. Samuel Pozzi (1847–1918) – Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie, Freigeist und Wissenschaftler, der seiner Zeit weit voraus war – zeichnet Barnes mit feinen, aber immer klar umrissenen Pinselstrichen das farbenprächtige Gemälde einer ganzen Epoche. „Merrie England, das Goldene Zeitalter, la Belle Époque: Solch glanzvolle Markennamen werden immer im Nachhinein geprägt“, schreibt Barnes, um dann ein unfassbar geistreiches und erhellendes Lehr- und Erklärstück über das Fin de Siècle abzuliefern, das wir bis heute hauptsächlich mit einer (vorläufig letzten) Blütezeit in allen Bereichen von Kunst, Kultur und Wissenschaft in Verbindung bringen.
Doch der britische 360-Grad-Denker gräbt tiefer, geht bis an die Wurzeln und findet dort: Blut-und-Boden-Nativismus, Chauvinismus, endemische Korruption, Antisemitismus und „Fake News“ (Affäre Dreyfus). Doch es wäre zu kurz gegriffen, hier einer Demontage, einer großen Desillusionierung, einer Auslöschung das Wort zu reden. Barnes skizziert mit großer Eleganz und unverhohlener Bewunderung auch die berauschende Originalität dieser Epoche.
Aber die historischen Figuren, die bei ihm die Bühne betreten, sind in ihrer Ambivalenz ein Spiegelbild der Zeit, in der sie leben: Oscar Wilde, Claude Monet, Arthur Rimbaud, Joris-Karl Huysmans, an dessen Dekadenz-Fibel „Gegen den Strich“ er weitere Themen- und Denkverästelungen festmacht: Genderfluidität, die Verschiebung der tektonischen Platten zwischen Naturwissenschaft und Religion und nicht zuletzt die Dualität der Beziehungen zwischen England und dem „Kontinent“ (also Europa).
Behutsam, aber bestimmt hat Barnes einem Zeitalter, das bis heute nachhallt, den roten Rock auszogen. Was darunter zum Vorschein kam, ist buchstäblich denkwürdig und vielschichtig. Ebenso wie dieses Glanzstück des großen Querdenkers, für den dieses zuletzt missbrauchte Wort in hohem Maß zutrifft.
Buchtipp: Julian Barnes. Der Mann im roten Rock. Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 24,70 Euro.