Kollateralschäden sind ihr Spezialgebiet. Kollateralschäden des sozialen Aufstiegskampfes. Und niemand seziert sie mit so sicherer Hand wie Annie Ernaux. Ihr liebstes Studienobjekt: ihre Familie. Nach den Neuauflagen „Der Platz“ und „Eine Frau“, die Ausleuchtung der Lebenswelt ihrer Eltern, geht sie neuerlich ans höchstpersönlich Eingemachte – das bevorzugt im Keller ganz hinten verstaut wird. Die „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich selbst gerne bezeichnet, dreht den Lichtschalter an. In der Neuauflage ihres Buches „Die Scham“, erstmals 1997 erschienen, schildert sie die Folgen eines mehr als traumatischen Erlebnisses, als sie mit zwölf Jahren miterleben muss, wie ihr Vater versucht, ihre Mutter umzubringen.
In Folge nistet sich ein Gefühl der Scham ein, als Ausdruck einer Furcht, die Familie könnte damit einen Milieuabstieg vollzogen haben. Denn gehört diese Form von Gewalt, von Auseinandersetzung nicht an den unteren Rand der Gesellschaft? Es ist ein Prozess, der sich schleichend wie Nebel einnistet, alles durchdringt und fortan unsichtbar das Leben lenkt. Eine unerbittliche, aber höchst erhellende Aufarbeitung.