Wir wollen dem guten Mann ja nichts Böses unterstellen, aber es kann durchaus sein, dass die Seele eines – zum Glück verbalen – Scharfschützen in ihm schlummert. Jedes Wort ein Treffer, jeder Satz eine Vollzugsmeldung. Nicolas Mathieu macht keine Gefangenen, bietet keinen Trost, kratzt jeden Zuckerguss vom Leben und zeigt sein „Personal“ in einer Nacktheit, die auch beim Leser ein Frösteln verursacht. Dennoch – und das ist die große Kunst dieses Literaten – gibt er sich nie die Blöße, seine Figuren die Würde zu nehmen. Das übernehmen schon andere.
Rose Royal. Nichts Königliches an dieser Frau, ein Leben im Mittelfeld; lauwarm, aber durchaus erträglich. Die Ehe geschieden, die Kinder schon erwachsen, der Job Routine. Rose „hatte jenes schwierige Alter erreicht, in dem sich die verbliebene Frische, das Funkeln im Alltag aufzulösen schien“. Mit den Männern hat diese Frau abgeschlossen. Um sich „die Dreckskerle“ vom Leibe zu halten, legt sie sich einen Revolver zu, damit die Angst endlich die Seite wechselt.
Ihre sozialen Kontakte hat Rose auf ein Minimum gedrosselt, ihren Alkoholkonsum auf ein Maximum hochgeschraubt. So hätte es immer bleiben können. Doch dann kommt Luc. Charmant, zurückhaltend. Auf den ersten Blick. Den zweiten Blick wirft Nicolas Mathieu. Gnadenlos, treffsicher, aber nur vordergründig ohne Mitleid. Denn Mathieu reicht die Hand, den Sturz kann er freilich nicht verhindern.
Sein famoser Vorgängerroman „Wie später ihre Kinder“ hat in die triste französische Provinz der 1980er-Jahre geführt, jetzt dringt Mathieu auf knappen 95 Seiten noch eine Schicht tiefer und porträtiert voll brutaler Schönheit – anders kann man es nicht nennen – das Leben einer Frau, der nicht einmal ein Mindestmaß an Respekt und Würde zuerkannt wird. Denn Rose verliert auch das Letzte, das ihr noch geblieben ist: ihre Unabhängigkeit. Und hier beginnt das Bild vom Scharfschützen zu bröckeln. Denn in Wahrheit ist es nicht Nicolas Mathieu, der abdrückt, es sind die Lucs dieser Welt.