Eigentlich hegt John Dyer recht bescheidene Wünsche an die Restzeit seines Daseins. Ein halbwegs überschaubares und geordnetes Leben möchte der Mittfünfziger führen, nach reichlich turbulenten Jahren. Rund drei Jahrzehnte lang war er als Brasilien-Korrespondent für eine britische Tageszeitung tätig, ehe er dem Journalismus den Rücken kehrte. Mit zurück in seine englische Heimat brachte er seinen mittlerweile elfjährigen Sohn und eine Unzahl an Erinnerungen und politischen Erlebnissen. Privat gesellt sich auch eine gescheiterte Ehe zum durchwachsenen Erfahrungsschatz hinzu.
Gemeinsam mit seinem Sohn Leonard lässt sich John Dyer erneut in Oxford nieder, als alleinerziehender Vater. Im englischen Nobelort wuchs er auf, er besuchte dort eine elitäre Schule, seinem kleinen Schützling will er eine ähnliche Ausbildung bieten. Aber es ist die falsche Zeit und der falsche Ort. Denn weder der Bub noch der Vater passen in die dort verkehrende Gesellschaft der Multimillionäre, schwerreichen Börsenspekulanten, Diplomaten, die zugleich als Agenten tätig sind; ergänzt durch Bonzen aus Ost und West, dubios und undurchschaubar.
Revolutionäre Formel
Eher ein stiller Außenseiter, ein Mann ohne besondere Eigenschaften ist dieser John Dyer, den Nicholas Shakespeare in seinem neuen Roman „Boomerang“ in die Literaturlandschaft entlässt. Aber wer Werke dieses vielseitigen englischen Erzählers und Kosmopoliten kennt, (darunter eine exzellente Biografie über den Nomaden Bruce Chatwin), der weiß auch, dass sein Protagonist auf recht rastlose und unruhige Zeiten zusteuert. Maßgeblichen Anteil daran hat diesfalls ein schlichter gelber Post-It-Zettel, der ihm von einem iranischen Atomphysiker heimlich anvertraut wird. In höchster Not und weil er um sein eigenes Leben und das Überleben seiner im Iran mehr oder weniger in Geiselhaft gehaltenen Familie bangt. Auf dem Zettel befindet sich, hingekritzelt, eine revolutionäre Formel für eine neue, epochale Kernfusion. Kurz danach verschwindet der Forscher spurlos.
Zeitpanorma
Das Gerücht über die sensationellen Entdeckung macht allerdings rasch die Runde, vor allem unter den großen Geheimdiensten. Sie alle blasen zur Treibjagd auf Dyer und das mysteriöse Papierblättchen.
Nicholas Shakespeare schickt seinen „Boomerang“ auf einen weiten, imposanten Gleitflug. Er führt über eine brüchige, nicht nur politisch aus den Fugen geratene Welt, er ist reich an Handlungsbögen und Handlungsfäden, die letztlich durch die meisterliche Hand eines außergewöhnlichen Erzählers verknotet werden. Das Werk ist keineswegs nur ein Polit- und Wissenschafts-Thriller, es ist ein düsteres politisches Zeitpanorama, in dem auch Mister Trump auftaucht, es ist, durch zahlreiche Rückblendungen über die einstige Entdeckung Brasiliens auch ein Geschichts- undAbenteuerroman und es ist, keineswegs zuletzt, eine berührende Vater-Sohn-Geschichte. Dieser „Boomerang“ zieht eine große Schleife, hinweg über den globalen Fortschrittswahn, es ist ein gewagter, kühner, großer und eindrucksvoll geglückter Wurf.
Nicholas Shakespeare: „Boomerang“. Hoffmann und Campe. 398 Seiten, 25,70 Euro.
Werner Krause