Suche nach einem Phantom
An Büchern über Beethoven besteht nun wirklich überhaupt kein Mangel, und doch gehört Albrecht Selges neuer Roman-Biografie „Beethovn“ künftig ein wichtiger Platz, wenn es um die literarische Reflexion dieses in vieler Hinsicht so einmaligen Komponisten geht. Dabei ist Selges Buch streng genommen weder Roman noch Biografie. Es ist eine Sammlung von Erzählungen über Menschen, die Beethoven nahe standen. Die „unsterbliche Gebliebte“ Josephine von Brunsvik, sein Neffe Karl, seine Haushälterin, eine alte Ahnin, der Dichter Franz Grillparzer und viele mehr – sie alle beschreiben „ihren“ Beethoven und ihre eigene Existenz. Das ruft ein Paradox in Erinnerung: Desto mehr Mozart-Bildnisse man kennt, desto weniger weiß man, wie er ausgesehen hat. Selge vergegenwärtigt dieses Paradox literarisch. Desto mehr man über Beethoven aus allen Blickwinkeln erfährt, desto schemenhafter, desto weniger greifbar ist dieser Mensch, dieses rätselhafte Phänomen.
„Beethovn“ ist auch ein Musterbeispiel an postmoderner Intertextualität, Selge verknüpft Anthony Burgess' „Clockwork Orange“ mit Thomas Manns „Dr. Faustus“ und verwebt auch sonst zahllose, oft anachronistische, musikhistorische Anspielungen in den Text. Das wirkt bisweilen arg gelehrt und gespreizt und man sollte schon ein Vorwissen über Beethovens Biografie mitbringen, um das mit Gewinn zu lesen. Dann allerdings wird immer wieder reich belohnt, einige Episoden wie jene über Josephine und Karl sind großartig geschrieben, finden einen speziellen Tonfall, der zwischen Poesie und Ironie vermittelt. Auch jene, die sich dem gefesselten Prometheus widmet. Der Aufklärer, der der Menschheit das Feuer und damit das Licht brachte, ist an einen Fels gekettet, einem hungrigen Raubvogel ausgeliefert. Der Aufklärer, der mit unvorstellbarem persönlichem Leid büßen muss: in diesem literarischen Bild wird das Phantom Ludwig van Beethoven für einen flüchtigen Moment greifbar.
Albrecht Selge. Beethovn. Rowohlt, 238 Seite, 22,70 Euro.
Die Innensicht eines Universalisten
David Byrne war als Chefdenker der Talking Heads einer der wichigsten Popmusiker der letzten Jahrzehnte. Der Künstler, der fast sein ganzes Leben mit Musik verbracht hat, hat einiges zu diesem Thema zu sagen. Und doch ist die thematische Vielfalt von Byrnes „Wie Musik wirkt“ überraschend breit. Zum Teil ist es künstlerische Autobiografie, zum Teil musikhistorische Abhandlung, und dann wieder eine Analyse der Pop-Gegenwart. Byrne hat ein universelles Interesse am Gegenstand. Er beleuchtet (vor allem eigenen Beispiel) das Wesen des Live-Konzerts, er lässt eine umfangreiche Geschichte der Tonträger und Musikproduktion Revue passieren, er denkt über Playlisten und Downloads nach, er widmet sich immer wieder den praktischen Seiten des Musikerlebens, etwa der Arbeit im Studio oder – im umfangreichsten Kapitel überhaupt – dem riesigen Feld „Business und Finanzen“.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen: „Wie Musik wirkt“ ist ein aufschlussreiches Buch für Praktiker und Fans. Musikliebhaber bekommen hier gewissermaßen eine Anthologie aus einer Hand geliefert, die fast immer kurzweilig und interessant zu lesen ist.
David Byrne. Wie Musik wirkt. Fischer, 444 Seiten, 36 Euro.
Weltmacht Musik
Als drittes Musikbuch wieder eine Klassiker-Empfehlung. Wenn man bei einem Werk aus dem Jahr 1993 schon von einem Klassiker sprechen kann. Der opulente Roman „Melodien“ von Helmut Krausser zählt zu den anregendsten Büchern, die zum Thema Musik je erschienen. In diesem Wälzer jagen verschiedene Personen aus unterschiedlichsten Motiven einer Melodien-Sammlug nach, die ein frühneuzeitlicher Alchemist ersonnen hat: Diese Zaubermelodien verleihen Macht über andere.
Melodien, die den Schlüssel zur Weltherrschaft darstellen – das ist nicht nur eine schöne Metapher zur Macht der Kunst, sondern die Grundlage für einen mit den Elementen des Trivialromans jonglierenden, kulturhistorischen Thriller, der einem Umberto Eco zur Ehre gereicht hätte. Nur dass Krausser nicht ganz so gelehrt und raffiniert ist, dafür mit viel mehr Ironie und schriftstellerischem Schwung zur Sache geht. Eingebettet ins Buch ist eine der schönsten Lebensbeschreibungen über den wahnsinnigen Komponisten Carlo Gesualdo, die es gibt. Ein Buch, das trotz seiner Ironie und seiner bizarren Fiktionalität enorm viel Erhellendes zur europäischen Musikgeschichte parat hält. Dass Krausser den Roman vor ein paar Jahren überarbeitet hat und in einer Neufassung vorlegte, ist ein zusätzlicher Anlass sich dieses Meisterwerk noch einmal vorzunehmen.
Helmut Krausser. Melodien. Dumont, 864 Seiten, 16,70 Euro.