Bexit! Benjamins Exit. So beginnt dieser große, hochpolitische Gesellschaftsroman. Benjamin, das lebensuntüchtige Sensibelchen des Trotter-Clans, steigt aus, zieht den Stecker aus seinem Alltagstrott und in eine romantische Wassermühle ein. Dort verzettelt er sich weiter an einem Roman, an dem er sich seit 30 Jahren abmüht. Doch so träge der liebliche Fluss an seiner Mühle dahinfließt, so reißerisch die Strudel rundum. Denn dort, in der Mitte Englands, wo kein Pilcher-Plüsch pickt, sondern stillgelegte Bergwerke und Autofabriken vor sich hin rotten, liegt das Epizentrum und der Eingang zu jener nationalen Identitätskrise, die ihren Ausgang dort fand, wo jetzt ein Wort klebt: Brexit!
Mit „Middle England“ hat Jonathan Coe sein Figurenpersonal rund um die durch allerlei Schicksalswatschen ausgefranste Trotter-Familie wieder in Stellung gebracht, jenen liebeswert-chaotischen Clan, den man schon aus den Romanen „Erste Riten“ (2002) und „Klassentreffen“ (2006) kennt. Colin Trotter etwa, Benjamins Vater. In den 1970er-Jahren stolzer und daseinszufriedener Facharbeiter spiegelt sein physischer und psychischer Verfall den Niedergang der britischen Industrie wider.
Oder Doug, Journalist und Labour-Anhänger, der in seiner Luxusvilla in Chelsea zunehmend an Herz und Hirn verfettet und längst nicht mehr weiß, worüber er schreibt, wenn er in gekünstelten Artikeln von den Nöten der „kleinen Leute“ berichtet.
Oder Sophie, die „studierte“ Nichte Benjamins, die aus dem vor Buntheit brodelnden London ins vor Brutalität brüllende Birmingham zieht, wo sich die Fremdenfeindlichkeit ballt und eine nebulose Sehnsucht nach verloren geglaubter Englishness breitmacht.
Über den Brexit wurden wir auf dem Kontinent mit reichlich Informationen gefüttert, die Emotionen kamen meist zu kurz. Wer verstehen und vor allem nachempfinden möchte, wie es zu dieser Lose-lose-Scheidung kommen konnte, sollte mit Jonathan Coe diese schmerzhafte, aber erhellende Reise ins Innere der britischen Seelenlandschaft antreten.
Dorthin, nach Middle England, wo der alleingelassene Mittelstand schneller zerbröselt als alte Scones. Dorthin, wo verbohrte Populisten und verblondete Sündenbockzüchter ein so leichtes Spiel hatten und ihre Zeigefinger nur in Wunden legen mussten, die schon seit Jahrzehnten unter Eiter standen. Dorthin also, wo man verlorene Größe mit nationalistischer Kleinkariertheit und Geistesenge zu kompensieren versuchte. Und spätestens seit dem Psychologen Alfred Adler wissen wir, dass man unter Kompensation jenen Versuch bezeichnet, bewusst oder unbewusst ein tatsächliches oder eingebildetes Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen.
Gut nur, dass uns Autoren wie Jonathan Coe – die virtuos Prosa und Politik in Einklang bringen – auch nach dem Brexit nicht abhandenkommen. Im Gegenteil: Sie sind wichtiger denn je. Denn was unzählige Kommentatoren nicht geschafft haben, leistet nun die Literatur.
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