"Morgen wird die Beerdigung drei Wochen her sein. Erst gestern habe ich die Angst davor überwunden, oben auf ein leeres Blatt Papier zu schreiben: Meine Mutter ist gestorben.“ April 1986, die Französin Annie Ernaux wiederholt nach dem Tod ihrer Mutter das, was sie zuvor bereits mit der Person ihres Vaters gemacht hat: In „Die Frau“, jetzt erstmals auf Deutsch erschienen, zeichnet sie Leben und Sterben einer Person nach, deren Lebensmaxime der soziale Aufstieg ist. Für sich selbst, aber noch mehr für ihr Kind, das es einmal besser haben soll.

Eine vielfach gelebte Zukunftsvision, eingeschrieben in die elterliche DNA, die sich schleichend auf die Kinder überträgt. Davor gibt es kein Entrinnen. Ein Plan, dem man alles unterordnet. Die Folgen schält Ernaux so treffsicher heraus, dass es wehtut: Irgendwann lassen die Kinder ihre Eltern zurück. Ein Riss, ein Spalt, ein Graben. Eine Leerstelle, die zum Stachel im Beziehungsgeflecht zwischen Eltern und Kindern wird.

Autorin Annie Ernaux
Autorin Annie Ernaux © APA/AFP/ULISES RUIZ (ULISES RUIZ)



Es scheint ein Mikrokosmos zu sein, auf den Ernaux, die sich selbst auch als „Ethnologin ihrer selbst“ bezeichnet, ihre Aufmerksamkeit legt: die Mutter, geboren 1906 als viertes von sechs Kindern. Die Eltern: Fuhrmann und Weberin. Und doch ist das der Ausgangspunkt vieler Biografien dieser Zeit, die nur einen Blick kennen: nach vorne und nach oben. Das gelingt auch: Sie steigt von der Arbeiterin zur Ladenbesitzerin auf. Hart arbeitend, lebenslustig und doch immer darauf fokussiert, dass die Tochter den Milieuwechsel vollziehen kann. Die Übung gelingt. Ernaux entwirft eine emotionale Landkarte, auf der sich die Grenzen mit dem Aufstieg der Tochter verschieben: „Manchmal stand ihr in Gestalt ihrer Tochter der Klassenfeind gegenüber.“

Doch immer wieder nimmt ihre Mutter Anlauf, versucht sich anzupassen, die Kleinbürgerlichkeit zumindest äußerlich abzustreifen, um den Abstand zu ihrer Tochter zu verringern, vermeintliche Nähe herzustellen. Die kehrt erst wieder zurück, als die Mutter an Alzheimer erkrankt.
Die Autorin verdichtet in diesem Teil ihres Requiems noch einmal die komplexe Beziehung zu einer Frau, die bis zum letzten Atemzug eines auf keinen Fall will: Stillstand. Mit großer Zärtlichkeit und einem schonungslosen Blick auf die Folgeerscheinungen der Krankheit, nähert sich Annie Ernaux wieder ihrer Mutter an und muss erkennen: „Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.“

Annie Ernaux. Eine Frau. Suhrkamp, 100 Seiten, 15,99 Euro.
Annie Ernaux. Eine Frau. Suhrkamp, 100 Seiten, 15,99 Euro. © Suhrkamp Verlag