Dystopien – also fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählungen – sind ja gerade sehr angesagt in Buch und Film. Allerorten geht die Welt irgendwann einmal endgültig den Bach runter. Die Betonung liegt auf „irgendwann einmal“, und das beruhigt natürlich ungemein, denn es ist weit weg und betrifft uns dann ohnehin nicht mehr.
„Das ist keine Dystopie“, steht ausdrücklich auf dem Buchrücken von Sibylle Bergs neuem Roman „Grm“, Untertitel „Brainfuck“. Letzteres muss man nicht erklären, der Titel ist der Slangausdruck für „Grime“ – und das wiederum ist die britische Version des Rap. Laut, hämmernd, gnadenlos, fiebrig, zuckend, aber immer wieder durchzogen von melancholisch-verlorenen Menschenstimmen.
Das ist der Rahmen. Aber dieser Roman fällt – aus jedem Rahmen. Er ist furchtbar. Furchtbar gut. Er ist erschütternd. Erschütternd glaubhaft. Er ist verstörend. Verstörend gegenwärtig. Kurz: Dieses Buch ist ein gefährliches Biest, das man dennoch unbedingt kennenlernen muss, damit man wieder weiß, wie maßlos und maßgeblich große Literatur sein kann, nein: muss.
Die Kernhandlung dieser globalen Kernschmelze: Vier Kinder aus Nordengland – alle schwer deformiert und ausgespuckt von der längst verkarsteten Erwachsenenwelt – gehen nach London und dort in den Untergrund, um gegen den autokratischen Überwachungsstaat zu rebellieren. Ihr Vehikel und Antrieb, gleichzeitig Spiegelbild ihres ausgehöhlten Inneren, ist die Grime-Musik. Grm! Das klingt wie Grollen. Und das ist beileibe kein Zufall.
Den Unrat, den Sibylle Berg beschreibt, wünscht man sich weit weg und in ferne Zukunft. Siehe Dystopie. Doch wir leben schon mitten im Morgen. Verschmutzung an Leib und Seele, Umweltverpestung, digitale Versklavung, analoge Verrohung usw. usf. „Und mit der immer komplizierter erscheinenden Weltlage wuchs der Wunsch der Bevölkerung nach einem Donnergott.“ Hier ist er. Und er kennt kein Erbarmen.