In Wien habe ich immer an der Kaffeehausaufsuchkrankheit gelitten, denn es hat sich herausgestellt, dass diese Kaffeehausaufsuchkrankheit die unheilbarste aller meiner Krankheiten ist“, schrieb Thomas Bernhard in „Wittgensteins Neffe“. Offenbar nicht nur unheilbar, sondern auch schwer ansteckend. Fragen Sie Sepp Dreissinger! Ihn hat der Virus Viennensis auch schon vor Ewigkeiten erwischt. Und wo kuriert man den am besten? Im Kaffeehaus natürlich. Zwei Mal am Tag muss der 71-Jährige dorthin. Mindestens.
Was der gebürtige Vorarlberger zwischen „Sperl“ und „Gutruf“, „Griensteidl“ und „Bräunerhof “ über Jahrzehnte aufgeschnappt hat, legt er nun in einem wunderbaren Band vor. Der Ausnahmefotograf serviert eine köstliche Melange seiner legendären Bilder samt Interviews, die er seit 2004 sporadisch geführt hat. Aufnahmen mit Auge und Ohr sozusagen.
Friederike Mayröcker unterhielt sich im „Mozart“ mit ihrem Herzgefährten Ernst Jandl über Wuchteln und Pyjamas. Joe Zawinul erinnerte sich an Friedrich Guldas „Furzendler-Ode“. Franz Schuh verriet, dass er im „Salzgries“ ein „Möbel auf zwei Beinen“ war. Olga Neuwirth, als Kind im Grazer „Theatercafé“ mit heißer Schokolade (und manchmal einem Tropfen Cognac) aufgepäppelt, komponierte für ihr zweites Wohnzimmer ein „Pièce d’amour pour le Café Korb“ inklusive Originalgeräusche vom Tellerklappern und Schnitzelbraten ...
Von Gert Jonke bis André Heller, von Christine Nöstlinger bis Stefanie Sargnagel, von den Wirten Kurt Kalb bis zum legendären Leopold Hawelka: Bei Sepp Dreissinger, dem feinsinnigen Hinschauer und Zuhörer, kommt eine illustre Schar ins Bild und zu Wort – humorvoll, melancholisch, philosophisch, tiefgängig.
Das 350 Seiten starke Panoptikum der Wiener Kaffeehauskultur ist nach 14 Tagen übrigens schon fast ausverkauft, also: Noch eine Melange, bitte!
Michael Tschida