Zum seelischen Strandgut zählen sie fast allesamt, verloren, resignativ, fernab von Hoffnung. Was sie dennoch eint, ist das Warten – worauf auch immer. Die Stille und die Spannung, die oft trostlose Einsamkeit, die den weltberühmten Gemälden von Edward Hopper innewohnt, gleicht einem düsteren Großstadtfilm, der kurz durch den Druck auf die Standby-Taste gestoppt wurde; gefrorene Momentaufnahmen mit enormer Suggestiv- und Erzählkraft, die bei jedem Betrachten immer wieder zwei Fragen aufwerfen: Was geschah zuvor, was wird danach passieren?
Dieses mitunter rätselhafte Wechselspiel zwischen dem Sichtbaren und Verborgenen sei nicht in Worte zu fassen, meinten Kunstexperten häufig. Dem konnte bis vor Kurzem nur zugestimmt werden. Fast als Anmaßung erschien es da, dass Lawrence Block, der das US-Krimigenre erheblich erweiterte, eine ihm nahestehende literarische Elite-Einheit dazu motivierte, zu Hopper-Bildern ihrer Wahl Erzählungen zu schreiben.
Gesagt, getan – und brillant geglückt. Angesiedelt sind die Storys vor allem im kriminellen Milieu, kein Wunder, wenn Michael Connelly, Lee Child, oder Joe R. Lansdale mit von der Partie sind. Aber speziell Jeffery Deaver beweist mit einer famosen sowjetischen Spionagegeschichte die hier praktizierte hohe Schule der Abstraktion und Assoziation.
Poetische Nachtflüge
Michael Connelly etwa schickt seinen Langzeit-Ermittler Hieronymus Bosch ins Rennen, der als Ermittler seinen Auftraggeber aufs Kreuz legt. Craig Ferguson steuert in seiner Geschichte über eine jahrzehntelange Männerfreundschaft, in der es auch um viel Lug und Trug und ein wenig Haschisch geht, einen der schönsten Sätze bei: „Die See war schuldbewusst und ruhig, als hätte sie grad gegessen.“
Poetische Nachtflüge, die in erstaunlichste Richtungen führen. Da jeder Erzählung das ausgewählte Gemälde von Edward Hopper vorangestellt ist, besteht natürlich auch reichlich viel Freiraum für eigene Ausflüge in das Universum dieses urbanen Seelenforschers.
Erzählerische Meisterstücke sind es durchwegs, die natürlich nicht an den genialen Originalen gemessen werden können. Aber auf Augenhöhe mit den Außenseitern und Einzelgängern, die Edward Hopper in die Kunstwelt und unsere Köpfe entließ, befinden sich die Autoren und Autorinnen, allen voran Joyce Carol Oates, allemal. Wer nach angemessener Einstimmung sucht, lasse dazu „Nighthawks at the Diner“ erklingen, den legendären Edward-Hopper-Song von Tom Waits.
Werner Krause