Es mag sehr anmaßend erscheinen, sich selbst ins Spiel zu bringen. Aber es dreht sich um den Abschiedsgruß bei der letzten persönlichen Begegnung vor einigen Wochen. „Pass auf dich auf, mein Lieber! Ich habe schon viel zu viele Freunde verloren!“. Eine innige Umarmung folgte. Wie immer davor. Und wie nie mehr danach. Der Freund, der dies sagte, schien, nach etlichen Chemotherapien und dem nahen Tod kurzzeitig an der Seite, den Kampf gegen eine heimtückische, viel zu lange ignorierte Krankheit tatsächlich gewonnen zu haben und auf einem verblüffend raschen Weg der Genesung zu sein. Seinen 70. Geburtstag, zuvor im Jänner, hätte er auf doppelte Weise feiern können. Er scherzte höchst vergnügt, sein Tatendrang schien keine Grenzen zu kennen.
Aber schier grenzenlos und unfassbar in all seinen Dimensionen des Schreibens und Denkens war Dževad Karahasan stets. Als der Titel seines neuen Buches, an dem er auch in den Zeiten seiner Krankheit ständig arbeitete und feilte, die Runde machte, löste er einen kurzen, kleinen Schock aus: „Einübung in das Schweben“ lautete er. Das klang unheilvoll, nach einem Vermächtnis, nach einem Nachruf zu Lebzeiten.
In Wahrheit hatte Dževad Karahasan fast drei Jahrzehnte lang mit sich selbst gerungen, ehe er die Geschichte verfasste. „Ich hatte Angst, verrückt zu werden“, sagte er. Die Angst war, für alle, die ihn näher kannten, nur allzu verständlich. Denn die Romanreise führt zurück in seine Heimat, nach Sarajevo, diese einstige, keineswegs nur in Europa einzigartige Metropole des multikulturellen Lebens, Denkens und Handelns. Bis 1992 der Krieg mehr als nur die Stadt zerstörte. Auch in Teilen der Bevölkerung taten sich Bruchlinien auf. Die traumatischen Erfahrungen hinterließen bei Dževad Karahasan zahlreiche seelische Narben.
Kein Freund des Rampenlichts
Ein Handy ärgerte ihn, Google war im fremd. Er war selbst ein wandelndes Lexikon. Einige Sätze lang weilte er in der Antike bei Platon, wechselte plötzlich zu Dante, ehe er bei seinem Lieblingsklub, dem SK Sturm, landete. Zehn Minuten über einen seiner Lieblingsdichter Anton Tschechow ersetzten mehrere Biographien. Mit dem russischen Dichterfürsten teilte Dževad Karahasan die tiefe Melancholie. Aber bei ihm trug sie in den Gesprächen eine Tarnkappe. Das Lachen lag ihm weitaus näher als jede Bemerkung zur eigenen, mitunter gewiss auch leidvollen Befindlichkeit. Als gelte es, einen Kernsatz von Ludwig Wittgenstein abzuwandeln: Worüber man nicht reden will oder kann, darüber muss man schreiben.
Schmunzeln und Stille
Jemanden „betratschen“ – das war eine seiner Lieblingsbezeichnungen. Sie löste anfangs einige Irritation aus. Aber in seiner Muttersprache steht der Begriff nicht für boshafte Sticheleien, sondern für liebevolle, anerkennende Erörterungen. Also betratschten wir querweltein vielerlei. Oder hielten uns an ein anderes Wort: Unterbrechen Sie mich nicht, ich möchte schweigen! Dies löste bei ihm oft ein Schmunzeln aus. Hernach: Stille.
Einmal, nach der Rückkehr aus Wien, von einer „Kirschgarten“-Premiere im Burgtheater, hielt Karahasan auf unserem Spazierweg kurz inne: „Eine Frage nur, mein Lieber: Standen bei der Inszenierung etwa Kirschbäume auf der Bühne, vielleicht sogar blühende?“ Die Frage wurde bejaht. Und mit einem heftigen Kopfschütteln quittiert: „Meine Güte! Da hat wieder jemand kein Wort von Tschechow verstanden. Ohne Spur von Phantasie“.
Mit Phantasie war dieser wunderbare Autor, Inbegriff der Toleranz und der Humanität, reichlich gesegnet; ehr noch: Sie schien ihm freudig zuzulaufen. Im sicheren Wissen, wohlbehütet aufgenommen zu werden.
In einem seiner Hauptwerke, „Der Trost des Nachthimmels“, beschreibt er Isfahan, Schauplatz der Handlung, als sei er einst in der Geschichte auch dort Stadtschreiber gewesen. Klare Frage also an ihn: „Wie oft warst du denn dort?“ Ebenso klare Antwort: „Nie“. Er fuhr dorthin, er blieb lange dort – aber nur als Kopfreisender. Trotzdem: Man hätte ihm stundenlang zuhören können bei seinen Beschreibungen der persischen Prunkstadt und bei seinen faszinierenden Geschichten über den Hofastronomen, Philosophen und Dichter Omar Chayyam. Damals verwies er auf ein irgendwo ergattertes Werk von Chayyam, mit dem Titel „Durchblättert ist des Lebens Buch“.
Das mag nun auch für diesen großartigen Menschen und dichtenden Weltenforscher gelten. Aber Dževad Karahasan bleibt unter uns. Als stiller, unentbehrlicher Tröster im Nachthimmel.
Werner Krause