Die Wettbüros sahen zuletzt den Franzosen Michel Houellebecq an der Spitze, gefolgt von der Kanadierin Anne Carson und der Französin Annie Ernaux. Auch Salman Rushdie, der jüngst bei einem Attentat schwer verletzt wurde, war bei den Wettanbietern ganz weit vorne. Letztlich machte die 82-jährige Annie Ernaux das Rennen. Die Autorin aus der Normandie war bisher vor allem mit autobiografischen Werken erfolgreich. Zuletzt erschien ihr Roman "Das Ereignis" auf Deutsch. 2020 stand sie mit ihrem Roman "Die Scham" an der Spitze der ORF-Bestenliste. Ernaux hat erst in den vergangenen Jahren breite Popularität erhalten. Mit ihren autofiktionalen Arbeiten thematisiert sie als "Ethnologin ihrer selbst" (Eigendefinition) soziale Ungleichheit und Klassenerfahrungen und wurde damit zum Vorbild für Kollegen wie Didier Eribon und Edouard Louis.
Kommentar
Preisträgerin "sehr überrascht"
"Wir haben Annie Ernaux bisher noch nicht telefonisch erreicht. Aber wir sind sicher, dass sie die Nachricht bald erhalten wird", sagte Mats Malm, Sekretär der Schwedischen Akademie bei der Bekanntgabe. Sie erfuhr erst kurz darauf durch einen Anruf der schwedischen Nachrichtenagentur TT von der Auszeichnung, wie die Agentur berichtete. "Nein! Wirklich?", sagte sie nach TT-Angaben. "Ich habe heute Morgen gearbeitet und das Telefon hat die ganze Zeit geklingelt, aber ich bin nicht dran gegangen", sagte sie demnach und ergänzte: "Ich höre es jetzt die ganze Zeit klingeln."
"Ich war sehr überrascht...", berichtete Ernaux dem schwedischen Sender SVT. "Es ist eine große Verantwortung ... zu bezeugen, nicht unbedingt in Bezug auf mein Schreiben, sondern mit Genauigkeit und Gerechtigkeit in Bezug auf die Welt zu bezeugen."
Im Suhrkamp Verlag rechnet man damit, dass die auf Deutsch übersetzten Bücher schon im Verlaufe des heutigen Tages nicht mehr lieferbar sein werden. Für alle im Verlag erschienenen Bücher von Ernaux seien Neuauflagen geplant. In den kommenden Tagen erscheint "Das andere Mädchen", die Übersetzung des 2011 erschienenen Romans "L'autre fille". Als Taschenbuch kommt zudem "Das Ereignis", die Geschichte einer schwangeren jungen Frau, die im Frankreich der 60er-Jahre versucht, Wege für eine Abtreibung zu finden. Die Verfilmung des Romans durch die Französin Audrey Diwan gewann 2021 den Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig. Der heuer bei Gallimard erschienene Roman "Le jeune homme" ist noch nicht auf deutsch erschienen.
Romane und Verfilmungen
Ernaux wuchs als Arbeiterkind in der Normandie auf und studierte in Rouen und Bordeaux. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin und veröffentlichte 1974 mit "Les Armoires vides" ihren ersten autobiografischen Roman. Seither sind rund 20 Romane erschienen, darunter "Les Années" (2008) und "Mémoire de fille" (2016). Zuletzt wurde die Verfilmung ihres 2000 erschienenen Romans "L'événement" breit rezipiert. Darin beschreibt sie, wie sie als Studentin 1963 schwanger wird. In einer Zeit und einem Land, in dem Abtreibung verboten ist, versucht sie, das in ihr heranwachsende Kind nicht zu bekommen. Die Verfilmung durch die Französin Audrey Diwan gewann 2021 den Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig und sorgte auch aufgrund der unübersehbaren Parallelen zu aktuellen Entwicklungen wie etwa in den USA für Diskussionen.
Auch in den Theatern wurden Dramatisierungen ihrer Bücher immer wieder gespielt. So bereitet am Volkstheater Wien derzeit Ed Hauswirth eine Dramatisierung ihres Romans "Die Scham" vor. Premiere ist am 29. Oktober in der "Dunkelkammer" des Hauses.
Im Frühjahr erhielt Ernaux den 13. Würth-Preis für Europäische Literatur - "für die Unerschrockenheit, mit der sie ihre Erfahrung in ihrer Autofiktion protokolliert, und für die Klarheit ihres Blickes auf Gesellschaft und kollektives Gedächtnis".
Verliehen wird der Literaturnobelpreis mit den übrigen Nobelpreisen am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Dynamiterfinders und Preisstifters Alfred Nobel. Im Vorjahr ging der Preis an den aus Sansibar stammenden Autor Abdulrazak Gurnah, im Jahr davor wurde die US-Lyrikerin Louise Glück ausgezeichnet.