"Ich bin ganz desperat", sagt Martin Pollack im Telefonat mit der APA. "Die Situation ist auch für mich ganz persönlich ein unglaublicher Schlag. Ich habe viele Freunde in der Ukraine. Mit einigen habe ich in den vergangenen Stunden telefonieren können. Eine junge Autorin aus Lviv hat dabei geweint. Sie befindet sich gerade auf einem Fußmarsch durch den Schnee zur polnischen Grenze."
Vor neun Jahren wurde bei dem 1944 in Bad Hall Geborenen Krebs diagnostiziert. Seither kämpft er gegen seine Erkrankung, und auch derzeit absolviert er im Spital eine Chemotherapie. "Aber ich kann nicht klagen und hab auch kein Recht zu jammern. Verglichen mit dem, was die Menschen in der Ukraine derzeit durchmachen, befinde ich mich in einer geradezu luxuriösen Situation. Der Onkologe hat gesagt, dass ich jetzt eigentlich eh' schon dreimal so lange lebe als ich eigentlich sollte."
Für Pollack, der Slawistik und osteuropäische Geschichte in Wien und Warschau studierte und sich in vielen Büchern mit der Ukraine, Polen, Belarus und den baltischen Staaten auseinandergesetzt hat, steht fest. "Die gesamten bisherigen Proteste sind nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit und der Schwäche. Das reicht nicht. Man darf nicht herumeiern und herumreden." Dass man bei den Wirtschaftssanktionen nicht zu härteren Mitteln gegriffen habe, sei ein Ausdruck von Bequemlichkeit: "Es muss uns klar sein, dass wir Verzicht leisten müssen." Es brauche klare und massive Reaktionen, denn der russische Angriff auf Ukraine sei nur der Beginn. "Es ist 5 vor 12 für uns Europäer. Die Polen und die Esten fürchten schon, dass sie die Nächsten sein werden. Und den Finnen wird schon angedroht: Wehe, ihr tretet der NATO bei!"
Dabei sei klar: "Österreich ist unheimlich tief verwickelt in Russland." Das reiche von Beteiligungen des Investors Siegfried Wolf bis zu Aufsichtsratsposten von Wolfgang Schüssel ("Er argumentiert, der Ölkonzern Lukoil sei eine private Firma. Es gibt aber in Russland keine privaten Firmen dieser Größenordnung." Der Gipfel seien Äußerungen von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) in einem "Kurier"-Interview. Dort sagt Sobotka u.a.: "Hinter Putins Entwicklung steht sicher nicht nur ein autokratisches Bestreben, sondern auch ein gewisses Sicherheitsbedürfnis - auch das muss man verstehen." - Pollack: "Der Putin-Versteher an der Spitze des Nationalrats sieht den Überfall auf ein Nachbarland als Ausdruck eines Sicherheitsbedürfnisses - bitte, wo sind wir denn? Symbolhaft für eine solche Haltung ist für mich immer noch der Kniefall der damaligen Außenministerin Karin Kneissl vor Putin. Das ist ein Symbol für das Versagen Österreichs. "
Auch die Kultur müsse in die Pflicht genommen werden. "Es besteht natürlich ein Unterschied zwischen dem Dirigenten Valery Gergiev und kritischen russischen Künstlern und Intellektuellen. Die einen sind im Gulag, den anderen wird eine große Nähe zu Putin nachgesagt. Ich kann nicht sagen, ich mache nur schöne Musik, und gleichzeitig die blutige Hand Putins schütteln. Das verbietet sich."
Über die weitere Entwicklung wage er keine Prognose, so Pollack zur APA. "Ich weiß nicht, wie weit die Russen gehen. Ich fürchte, dass sie so weit gehen werden, wie sie können und wie man sie lässt. Sie wollen wohl Kiew einnehmen, die Regierung stürzen, eine Marionettenregierung einsetzen und Präsident Wolodymyr Selenskyj töten oder vor Gericht stellen. Dort wird ihm dann wohl als Drogenhändler oder so der Prozess gemacht werden. Putin hat jetzt Blut geleckt, das ist ganz klar. Die Frage ist, wie weit er zu gehen bereit ist. 30 Prozent der Bevölkerung in Estland sind russischstämmig. Mit genau der gleichen Argumentation kann er diese Minderheit als nächstes nach Russland zurückholen wollen."
"Ich bin verzweifelt. Ich bin ratlos", gibt Martin Pollack abschließend zu. "Ich weiß nur: Wir müssen etwas tun. Proteste sind wichtig, Demonstrationen sind wichtig, keine Frage. Aber da muss mehr sein."
Wolfgang Huber-Lang/APA