Wo anders könnte eine solche Erinnerung besser entstehen, wenn nicht auf der Bank vor seiner kleinen Hütte in Sladka Gora? Hier in dieser so malerisch schönen Umgebung, wo der steirische Dichter durch fast vier Lebensjahrzehnte eine zweite Heimat gefunden hat. Dieses Erbteil jenseits der Grenze war ja keine „g’mahte Wiesn“ – im Gegenteil. Nüchtern betrachtet war dieses Haus, das er nach dem Tod seines Onkels Jurij übernahm, eine Bruchbude mitten auf einem steilen Hang ohne Wasser, ohne Strom und ohne Zufahrt. Freilich, der Blick von hier in die unendliche Weite des Landes ist von großer Schönheit. Da klärt sich dann manches im eigenen Kopf, was von der Lebenseile in der Stadt zugeschüttet wird.
Erst wenn man einmal an diesem Ort gewesen ist, kann man verstehen, warum Alois Hergouth so vieles auf sich genommen hat, um diesen Platz zu erhalten. Hier bezog er seine Lebensenergien, hier tankte er im Sommer Kraft, um den Winter in seiner bescheidenen Dichterklause zu überstehen. Wenn von seinem Haus in Sladka Gora erzählt wird, stellt man sich einen kleinen Landsitz vor mit den üblichen Bequemlichkeiten. Natürlich hätte er all das auch haben können. Durch seinen gesicherten Brotberuf als promovierter Volkskundler an der Grazer Universität wäre es ihm ein Leichtes gewesen, eine herkömmliche Sanierung vorzunehmen. Es müssen wohl seine Wurzeln gewesen sein, die ihm solche Änderungen verbaten. So ließ er noch in den 80er-Jahren seine Lehmhütte mit Stroh eindecken, heute ist sie eine der letzten strohgedeckten Hütten in der Umgebung.
So wie ich von diesem Strohdach als einem Beispiel erzähle, so war überhaupt sein Eintritt in die frühe Lebenswelt seiner slowenischen Eltern von großer Behutsamkeit geprägt. Obwohl er hier in einem Land lebte, mit Menschen, deren Sprache er weder sprechen noch verstehen konnte. Er war dennoch kein Fremder. Er liebte die Menschen und sie liebten ihn, den einsamen Sonderling aus der Stadt. Wenn er seinen Rucksack packte, um von der Moserhofgasse in Graz-St. Peter nach Sladka Gora aufzubrechen, dachte er immer daran, den Leuten etwas mitzubringen.
Bis er von Graz aus sein Ziel per Bahn und dann noch zu Fuß erreichen konnte, hatte er eine große Zahl sogenannter „Stationen“ zu passieren, deren Letzte stets der Pfarrer war. Er nämlich konnte Deutsch sprechen und war ihm somit ein wichtiges Bindeglied zu den Einheimischen. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit musste er den für ihn schon in frühen Jahren sehr beschwerlichen Anstieg zu seiner Hütte gemeistert haben.
Inzwischen ist der Abend hereingebrochen, und vom Tal herauf läuten die Glocken zur Abendmesse. In der Erinnerung taucht ein Bild auf aus der frühen Zeit unserer Bekanntschaft. Kurz vor Maria Lichtmess waren wir gemeinsam hinuntergefahren. Als wir die Kirche von Sladka Gora betraten, überkam uns ein eigenes Gefühl. Alles war noch so schön geschmückt von Weihnachten her. Alois Hergouth freute sich ganz besonders über diesen Moment – später hat er mit mir noch oft darüber gesprochen. Um den Altar herum war noch die Krippe aufgebaut, die er schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Es war eine alte, sehr liebevoll geschnitzte Krippe mit vielen Figuren.
Dann erzählte er noch von einem alten Corpus des Gekreuzigten, den er hier auf dem Dachboden gefunden hatte und der ihn von da an bis zum letzten Tag seines Lebens begleiten sollte. Hergouth war sicher kein streng gläubiger Mensch im kirchlichen Sinne, aber der Glaube nahm ohne Zweifel in seinem Leben und in seinem Werk eine feste Position ein.
Während meine Gedanken in der Erinnerung versunken sind, ist über dem nahen Wald der Mond aufgegangen. So hell und rund und schön, wie ihn schon Matthias Claudius besungen hatte. Nicht von ungefähr verewigte auch Hergouth ihn im Titel seines autobiographischen Romans „Der Mond im Apfelgarten“. Alles, was man später über jemanden schreibt, bleibt eine Nacherzählung – eine in der Erinnerung geschönte Wirklichkeit. Authentisch bleibt lediglich die von Alois Hergouth selbst zu Papier gebrachte Geschichte seiner Zeit in der damals jugoslawischen Heimat seiner Eltern.
Georg Frena*