Der Traum, schrieb Sigmund Freud in einer berühmt gewordenen Wendung, ist der „Hüter des Schlafes“. Mögliche Störungen der Nachtruhe durch Reize der Außenwelt und eine durch seelische Erregungen bedingte innere Unruhe werden in ein Traumgeschehen umgewandelt und in dieses integriert, sodass wir so lange wie möglich weiterschlafen können. Der Schlaf weiß sich Mittel und Wege zu finden, um jene Weltverlorenheit durchzusetzen, die ihn essenziell bestimmt. Im Traum ist jedoch immer etwas von dieser Welt präsent, seien es Tagesreste, Erinnerungen, Wünsche, Ängste oder auch nur die Geräusche des anbrechenden Morgens, die für ein paar Minuten in einen Traum umgewandelt werden, bevor es zum Erwachen keine Alternative mehr gibt.
Umgekehrt könnte man sagen, dass der Traum jenes Geschehen ist, das die bedrohliche Leere der Zeit des Schlafes mit Bildern und Geschichten abmildert. So wenig wir uns an den Schlaf und an das, was in diesem mit und um uns geschehen ist, erinnern können, so sehr scheint uns der Traum, aus dem wir aufwachen, eine Bewusstseinskontinuität zu suggerieren, die uns vor einem vollkommenen Ich-Verlust in der Nacht bewahrt.
Diese trügerische Sicherheit hat ihren Preis. Das Traumgeschehen kann eine Intensität annehmen, die wie ein Alp auf unsere Seele drückt oder uns in Sphären hebt, die die Welt, die sich uns nach dem Erwachen präsentiert, als defizitäres Ungenügen erscheinen lässt. Kein Begriff schwankt deshalb so sehr zwischen Euphorie und Depression wie der Traum. Aus einem Traum zu erwachen, kann im Extremfall bedeuten, endlich aufatmen zu können, weil man einem Alpdruck entkam und weiß: Es war nur ein Traum. Der morgendliche Augenaufschlag kann uns aber auch signalisieren, dass wir aus einer Welt der schwerelosen Wunscherfüllung aufwachen und mit einer unbestimmten, unerfüllbaren Sehnsucht weiterleben müssen. Friedrich Nietzsches lyrisches Mitternachts-Ich versieht durch sein Erwachen das Traumgeschehen mit neuen Akzenten.
Wollen wir diesem Erwachen nachspüren, lohnt es sich, jene metaphorische Verwendung des Schlafes ins Gedächtnis zu rufen, die es Nietzsche erlaubt hatte, von einem Schlaf der Tugend zu sprechen. Diese Formulierung erinnert nicht von ungefähr an den Titel eines der berühmtesten Bilder der europäischen Kunst: Francisco de Goyas Radierung mit dem Titel „El sueño de la razón produce monstruos“ – „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Da „sueño“ im Spanischen allerdings nicht nur Schlaf, sondern auch Traum bedeuten kann, lässt sich der Titel genauso gut mit „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ übersetzen. Die Bedeutungsverschiebung von Schlaf zu Traum, die es nicht erlaubt, Schlaf und Traum als synonyme Begriffe zu verwenden, kann an dem Blatt wunderbar illustriert werden.
„El sueño de la razón produce monstruos“ ist eine der wirkmächtigsten Arbeiten der bildenden Kunst und stammt aus einem Zyklus, den Goya am Ende des 18. Jahrhundert geschaffen hat. Wir sehen einen Künstler oder einen Schriftsteller, eingeschlafen, er hat nur ein Blatt Papier und einen Federkiel vor sich. Naheliegend, dies als Selbstbild des Künstlers zu deuten, man könnte jedoch genauso den Philosophen, den Intellektuellen darin sehen. Hinter dieser im Schlaf versunkenen Figur erscheinen dunkle, bedrohliche Wesen, flatternde Ungeheuer: Fledermäuse, eulenartiges und fliegendes Getier, auch ein aufmerksamer Luchs ist zu sehen. Hier ist nicht der Ort, die zahlreichen Facetten der Interpretationsgeschichte dieses Bildes zu rekonstruieren, sondern es sei nur auf die Bedeutungsnuancen, ja radikalen Bedeutungsunterschiede verwiesen, die sich ergeben, je nachdem, ob man den Akzent eher auf den Schlaf oder auf den Traum legt.
Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. In den Debatten um Aufklärung, um Wachsamkeit gegenüber Irrationalismus und Rechtspopulismus wird dieses Bild gerne zitiert: Man darf die Vernunft nicht schlafen schicken, Wachsamkeit gegenüber allen gefährlichen Tendenzen in Politik und Gesellschaft ist geboten. Was Nietzsche von der Tugend sagte, dass es gut sein kann, diese auch einmal schlafen zu lassen, wäre für die Vernunft ein Verhängnis. Wenn die Vernunft schlummert, wenn die Vernunft nicht wachsam ist, wenn die Vernunft nicht in Alarmbereitschaft ist, droht Unheil: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Wenn wir der Vernunft abschwören, sie vernachlässigen, dann tauchen diese Gespenster des Irrationalen, des Unbewussten, des Geheimnisvollen, des Paranoiden, des Nicht-mehr-Kontrollierbaren auf, sie fallen über uns her, beschatten unser Dasein, versetzen uns in Ängste und führen uns in jenen auch politischen Wahn, von dem wir nicht zuletzt das 20. Jahrhundert geprägt sahen. Deshalb der Appell: Seid aufmerksam, seid wachsam, wehret den Anfängen, nur nicht die Vernunft einschlafen lassen, sonst verlieren wir die Kontrolle über diese Ungeheuer, die womöglich in uns selbst lauern und als Nacht der Geschichte wieder über uns hereinbrechen können. Dann drohen finstere Zeiten.
Doch was, wenn wir „sueño“ anders übersetzen: Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer? Die Bedeutung dieses Bildes verändert sich schlagartig. Interpretieren wir den Traum als imaginierte Wunscherfüllung, umgeben wir ihn also mit jenem semantischen Feld, das wir von Begriffen wie „Traumurlaub“ oder „Traumhochzeit“ kennen, ließe sich die von Goya festgehaltene Szene auch als ernüchternder Befund, vielleicht auch als Warnung lesen: Könnte die Vernunft tun, was sie tun wollte, könnte sie sich ihren Traum von der Herrschaft der Rationalität erfüllen, entstünden furchteinflößende Ungeheuer. Nicht die Trägheit oder Sorglosigkeit der Vernunft, nicht ihr Schlaf produziert die Ungeheuer; diese erscheinen, wenn die Vernunft sich selbst, ihrer eigenen hemmungslosen Logik überlassen wird. Sollten ihre Träume eines rational kalkulierten, logisch stimmigen, in der reinen Immanenz verhafteten Lebens realisiert werden, dann schlägt dieser Traum in einen Alptraum um, der die Ungeheuer der Nacht nicht bannt, sondern erst freisetzt.
Von der Hand zu weisen ist diese Deutung nicht. Goya zeichnete die schlafende oder träumende Vernunft etwa ein Jahrzehnt nach der Französischen Revolution, nach den Exzessen des jakobinischen Terrors, nach dem grausamen Tanz um den Tempel der Vernunft, dessen Rhythmus vom Fallbeil vorgegeben worden war. Es gibt dabei nichts zu beschönigen: Es war schon die Vernunft, die das Leitbild der Französischen Revolution dargestellt hatte, sie sollte an die Stelle der transzendenten Instanzen treten, die falschen Götter ablösen, die Welt und die Gesellschaft nach den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit neu ordnen. Das Resultat war die Guillotine, das Blutbad, der hemmungslose Mord, der auch vor den Vertretern dieser Vernunftreligion, vor Robespierre selbst nicht haltgemacht hat. Diese großen Revolutionäre landeten alle unter dem Schafott. Die Revolution frisst ihre Kinder – wie Pierre Victurnien Vergniaud, einer ihrer Protagonisten, bemerkte, bevor er seinen Kopf unter das Fallbeil legte. Gerade ihre ehrlich begeisterten Anhänger muss die wild gewordene Vernunft immer auch enttäuschen. Nur der überlebt eine Revolution, der bereit ist, ihre Ideale zu verraten.
Und dennoch: Es war dies ein Traum der Vernunft, den die Französische Revolution proklamiert hatte, und es gab plötzlich die Möglichkeit, diesen Traum zu verwirklichen – herausgekommen sind Ungeheuer: menschliche Ungeheuer und ungeheure Taten. Es stimmt, dass es langfristig ohne diesen Schrecken weder die Realität der Menschenrechte noch die bürgerliche Gesellschaft gegeben hätte. Der Nimbus, der die Revolution zeitweilig umgab, lag nicht in ihrer Praxis, sondern in ihrem Pathos, ihrer Gestik, ihrer Symbolik. Es ist erstaunlich, dass in der Euphorie gerade auch über die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts großzügig darüber hinweggesehen wird, dass keine dieser Revolutionen ihr Ziel unmittelbar erreichte. Sie mündeten fast stets in Terror, Gewaltherrschaft, politischem Abenteurertum, und es dauerte, etwa in Frankreich, nach der Schreckensherrschaft der Jakobiner, mit Napoleon, der Restauration, weiteren Aufständen, dem dritten Napoleon und mehreren Kriegen über ein Jahrhundert, bis die Versprechen der Revolution allmählich stabile institutionelle Formen annehmen konnten. Gelungene Revolutionen mögen politische Machtverhältnisse umstürzen, alte Systeme hinwegfegen, Personen beseitigen – in der Regel schaffen sie mehr Probleme, als sie unmittelbar lösen. Der Traum der Vernunft sollte uns vorsichtig stimmen. Eine wache Vernunft träumt nicht, sondern ist sich ihrer Unzulänglichkeit und Fehleranfälligkeit, ihrer Dialektik und ihrer Not bewusst.
Was Goya mit diesem berühmt gewordenen Blatt intendierte, wissen wir nicht. Möglich, dass er eine Zweideutigkeit anvisierte, die es offenlässt, ob die schlafende Vernunft zu einer ungeheuren, von Ungeheuern geprägten Welt führt oder ob umgekehrt die realisierte Vernunft, die Vernunft, die ihren eigenen Traum leben kann, diese Ungeheuer aus sich heraustreibt. Der Traum der Vernunft wäre dann ein Alptraum, Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs der Vernunft, der selbst ungeheuerlich ist und dem das Subjekt so schreckhaft ausgeliefert ist wie der schlafende Künstler den Gespenstern der Nacht.
Konrad Paul Liessmann