Wer in halbwegs klaren Nächten den Blick himmelwärts richtet und über entsprechende Basiskenntnisse verfügt, der kann ihn entdecken, denHimmelskörper namens Friedrich Dürrenmatt. Seit rund 20 Jahren trägt ein Asteroid den Namen des Universaldenkers, der mit seinen literarischen und philosophischen Werken einen eigenen Kosmos schuf. Und doch will das Bild so gar nicht zum Urheber passen. Denn der war ein notorischer Stubenhocker, wie durch ein unsichtbares Band an seinen Schreibtisch und seine Schreibmaschine gefesselt.
Das Reisen war ihm bestenfalls lästig, der Gedanke, ein Flugzeug besteigen zu müssen, löste mitunter Panik aus. Und doch ist die Expedition, zu der Friedrich Dürrenmatt als Autor vor mehr als 70 Jahren aufbrach und die in eine Erkundung der Welt mündete, die ihm ständig grotesker und absurder erschien, noch immer nicht abgeschlossen. Weil der Schweizer Pastorensohn, 1921 geboren, fast alle seine Romane, Erzählungen und Bühnenwerke als unvollendet erachtete, schuf er unentwegt Neufassungen. Einiges davon schlummert noch in den Archiven, anderes verbrannte er. Um unverzüglich eine Neufassung zu beginnen.

Gnadenloser Kritiker


Man müsse sich, um die aus den Fugen geratene Welt zumindest einigermaßen verstehen zu können, irgendwo an den Rändern ansiedeln, lautete eine frühe Erkenntnis des Zynikers, Visionärs, Skeptikers und gnadenlosen Gesellschaftskritikers in Personalunion. Dass er ausgerechnet jenes Bühnenwerk, das ihm endgültig zu Weltruhm verhalf, weitaus mehr als Fluch denn als Segen erachtete, fügt sich ein in all die Widersprüchlichkeiten, die Friedrich den Großen stets umgaben. Es ist die Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“, diese so vielschichtige Entlarvung aller spießbürgerlichen Heucheleien samt der Diagnose, dass das Rückgrat der meisten Menschen aus Schleim gemeißelt ist. Bald nach der Uraufführung im Jahr 1956 eroberte das Bühnenwerk den Broadway, ein Siegeszug rund um den Globus folgte.

Jedem seine Narben


An seinem 60. Geburtstag führte Friedrich Dürrenmatt mehrere Selbstinterviews, sarkastisch wies er in einem dieser Gespräche mit sich selbst darauf hin, dass ihn das Stück zwar schon zu Lebzeiten fast unsterblich gemacht habe, aber viele andere seiner Werke völlig in den Schatten rücke. Gemeint waren damit nicht andere Welterfolge wie die Kriminalromane „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“ oder Gegenwartsklassiker wie die halb wahnsinnigen „Physiker“. Gemeint sind all die in den Bänden „Stoffe“ zusammengefassten Texte, die auch Resultat einer rasch wachsenden Kluft zwischen dem Dichter und der Öffentlichkeit waren.
Zu den vielen Brüchen in Dürrenmatts Leben zählt auch jener mit Max Frisch, dem zweiten Schweizer Giganten. Geraume Zeit waren sie einigermaßen befreundet. Fünf Jahre vor seinem Tod schrieb Dürrenmatt, häufig depressiv, aber auch verbittert, in einem Abschiedsbrief an Frisch Sätze wie diese: „Lieber Max. Wir haben uns beide wacker auseinanderbefreundet. Ich habe Dich in Vielem bewundert, Du hast mich in Vielem verwundert und verwundet haben wir uns auch gegenseitig. Jedem seine Narben.“

Kraft des Einmaligen


Eigentlich hätte Dürrenmatt, häufig von großen Geldsorgen geplagt, einen geruhsamen und durchaus feudalen Lebensabend führen können. Doch das entsprach nicht seinem Wesen und seinem Schaffensdrang. Obwohl er, als Jungdichter, zu einem Pionier desKünstler-Crowdfundings wurde. Ab 1952 erhielt er auf Initiative der Schweizer Zeitschrift „Beobachter“, die er regelmäßig mit Kurzgeschichten versorgte, drei Jahre lang monatlich 600 Franken. Dürrenmatt hatte damals eine fünfköpfige Familie zu versorgen. Was aber wollte der aufstrebende Dichter, der zum Geld stets eine sonderbare Beziehung besaß („Es ist ein seltsames Material“), mit den Spenden machen? Er plante den sofortigen Ankauf eines Segelbootes. Von diesem Vorhaben konnte er nur mit viel Überredungskunst abgehalten werden. Also erhöhte er die Schlagzahl an der Schreibmaschine. Dies erwies sich keinesfalls als nachteilig.
Friedrich Dürrenmatt zählt zu jenen wenigen Autoren, die Menschen und Dingen ihre Geheimnisse entlocken können, ohne dass sie ihm lange beichten müssen, er besitzt ein empfindsames Ohr für die Ober- und Zwischentöne in der Melodie des Lebens, vor allem aber für die Disharmonien. Ein Künstler, der die Kraft des Einmaligen, Individuellen verkörpert. Dass sein Stern weiterhin strahlt, ist ja ohnehin bewiesen.