Ihre unstillbare Faszination, Ihre Getriebenheit für Venedig geht auf ein Kindheitserlebnis zurück. Welches war das?

GERHARD ROTH: Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger fuhr ich mit meinen Eltern und den beiden Brüdern nach Venedig. Mit unserem Vater, der das erste Rigorosum seines Medizinstudiums in Bologna abgelegt hatte, besuchten wir zuerst den Markusdom. Die goldenen Mosaike im Dom waren überwältigend. Sie bestätigten alles, was ich über die Bibel, das Christentum und die katholische Kirche in der Schule gehört hatte. Als wir dann auf dem Canal Grande mit einem Vaporetto fuhren, bildete ich mir ein, die Spiegelungen der Palazzi im Wasser seien so etwas wie die Mosaike im Dom. Ich geriet irgendwie in Trance.

Mehr als 15.000 Fotografien haben Sie während der letzten Jahrzehnte in Venedig gemacht. Wie schwierig ist es, in dieser zu Tode fotografierten Stadt Motive zu finden? Und: Welche Motive haben es Ihnen besonders angetan?

Das ist nicht schwierig, weil man ja alles selbst zum ersten Mal sieht und die eigenen Eindrücke die bestimmenden sind. Wenn ich schreibe, lastet ja auch nicht die gesamte Weltliteratur auf mir. Man kennt davon lebenslang nur einen Ausschnitt. Und die Fragmente, die einem bekannt sind, regen einen an, es selbst zu versuchen. Ich fotografiere, was mich inspiriert. Ich bin eher ein Tagträumer, der die Wirklichkeit sucht, und nicht umgekehrt. Und der glücklich darüber ist, wenn die Wirklichkeit sich in Tagträume verwandelt.

Sie sind ja nicht nur Venedig-Besucher und -Liebhaber, sondern betreiben in dieser Stadt regelrechte Feldforschung. Welche „Forschungsgebiete“ beinhaltet das?

Ich bin immer neugierig darauf, was sich hinter dem Paravent „Wirklichkeit“ verbirgt. Dann beginne ich, wie ein Spürhund an den Überbleibseln der Zeit zu schnuppern, und folge den Spuren. Das geschieht nicht auf akademische Weise, sondern instinktiv.

Sie sind ja ein Vielreisender und Weitgereister. Was unterscheidet Venedig von anderen Städten?

Alles liegt auf engstem Raum beisammen. Hinter jeder Straßenecke verbirgt sich etwas Unbekanntes und überall ist Wasser, sind Kanäle, die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden. Der Orient spielt schon herein. Die Vergangenheit zeigt sich wie in einem Traum, der auch ein Albtraum sein kann. Ja, und auch der sich ununterbrochen verändernde Alltag, sein Verschwinden und sein Entstehen. Man kann dieses seltsame Gewebe an Ort und Stelle rekonstruieren, tausend und mehr Jahre zurück. Man sieht kein Auto, der Verkehr spielt sich auf dem Wasser ab oder auf den Fußwegen der verwinkelten Gassen.

Ihr neuer Venedig-Fotoband trägt den Untertitel: „Ein Spiegelbild der Menschheit“. Im Sinne von: Alles Großartige und Niederträchtige spiegelt sich dort wider?

Im Dogenpalast findet man beispielsweise Niedertracht und Schönheit im selben Gebäude. Die Seite, die der Doge bewohnte, ist paradiesisch, sozusagen „ehrfurchtgebietend“, angefangen von Deckenfresken bis zu den Bildern an den Wänden, den Möbeln oder dem Marmormuster der Fußböden. Im Teil, der vom Geist des venezianischen Staatswesens und seiner Beamten durchdrungen ist, stößt man auf „Löwenmäuler“, die anonymen Briefkästen mit steinernen Löwenhäuptern, in die jeder Anzeigen und Beschuldigungen einwerfen konnte. Ein Paradies für Denunzianten. Es gab die Folterkammer mit allen Behelfsmechanismen. Der Beamte, der diesem Bereich vorstand, erhielt ein sehr hohes Gehalt, durfte aber nicht öffentlich auftreten, und sein Dienstraum war mit Absicht das Gegenteil von prunkvoll. Er sah aus wie eine spärliche Kapitänskajüte. Hingegen arbeiteten seine Untergebenen in großen Räumlichkeiten, die universitären Charakter hatten. Im Dogenpalast gab es zwei Arten von Gefängnissen: die „Piombi“, die Kammern unter dem Bleidach, das im Sommer große Hitze erzeugte und im Winter Kälte vermittelte, und die „Pozzi“, die „Brunnen“ im Keller, in die bei „Acqua alta“ das Wasser durch die vergitterten Fenster eindrang. Die Todesurteile wurden zwischen zwei heute noch rot gestrichenen Säulen im ersten Stock des Arkadenganges zur Piazzetta hin verkündet. Vollstreckt wurden sie auf der Piazzetta selbst zwischen den Säulen des heiligen Theodor mit dem Drachen, der wie ein Krokodil aussieht, und dem Markus-Löwen. Alle erdenklichen Grausamkeiten wurden dort öffentlich vollzogen. Die Einwohner der Stadt vermeiden es bis heute, zwischen den beiden Säulen hindurchzugehen.

Die dunklen Seiten der Stadt, ihre Untiefen, und gleichzeitig diese schier unfassbare Schönheit. Ist es das, was Sie an Venedig besonders reizt?

Ja. Überall bricht gleichzeitig auch der Wunsch nach Schönheit durch. Venedig ist eine Märchenstadt. Wie im Märchen oder wie das Haus zur Schnecke gehören in Venedig das Schöne und Böse zusammen.

Ist dieser Fotoband mit Texten komplementär zu Ihrer aktuellen Venedig-Roman-Trilogie zu sehen, die im nächsten Jahr ihre Fortsetzung findet?

Der Leser und Betrachter begleitet mich auf meiner Spurensuche in der Stadt, und ich erzähle, was mir dabei gerade einfällt. Das Triptychon, so nenne ich es mittlerweile, schließt mit dem Roman „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ – ein Shakespearezitat aus „Vergebliche Liebesmüh“ – ab. Das Buch erscheint am 24. Februar.

In diesem üppigen Fotoband finden sich zahlreiche Reportagen von Ihnen. Geht denn der „Reporter“ Roth mit anderem Blick durch die Stadt als der Schriftsteller Roth?

Ich bin kein „Reportagen-Schreiber“. Ich bin immer auf der Suche nach der Wirklichkeit, nach der Außenwelt, mit der ich meine Innenwelt konfrontiere. Das sind keine Reportagen, sondern Hinweise, Bemerkungen, Anekdoten, Informationen, Gedanken, die helfen, mich und das Dargestellte besser zu verstehen.

Auf den Fotos sind Sehenswürdigkeit zu sehen, versteckte Orte und Plätze, aber auch viele Menschengesichter. Durch welche Gegenden flanieren Sie am liebsten – und gibt es überhaupt einen Lieblingsplatz in Venedig?

Ich habe am liebsten im Caffè Florian meine Notizen gemacht, wenn ich irgendein Thema, irgendein Gebäude behandelt habe. Das wird erschwinglich, wenn man, wie ich, drei und mehr Stunden sitzen bleibt und nur einmal eine Bestellung aufgibt. Die Menschenflut, die den Markusplatz permanent überschwemmt, ist außerdem besonders im Karneval abwechslungsreich.

Als wir das letzte Mal gemeinsam in Venedig waren, haben Sie sich von der Stadt verabschiedet und gemeint, dass Sie „loslassen“ müssen. Ist das überhaupt möglich oder ist das nicht vielmehr eine lebenslange Besessenheit, die man nie ablegen kann?

Mitunter zwingen einen die Umstände dazu. Marcel Proust beschreibt in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ so wunderbar, wie er als Kind mit seiner Mutter im Caffè Florian sitzt. Allein, wenn es gelingt, so einen Absatz, so ein Kapitel zu schreiben, nimmt man auch einen Abschied in Kauf.

Verraten Sie uns Ihre näheren Zukunftspläne? Wie geht es nach dem Venedig-Zyklus weiter?

Ich arbeite jetzt an der Korrektur von „Die Imker“. Die Welt geht unter und es hat den Anschein, dass nur die geisteskranken Künstler aus Gugging überlebt haben.