Der mexikanische Filmemacher Alejandro González Iñárritu erwarb sich vor Jahren die Patentrechte für den Dreiteiler über Menschen, deren Tragödien anscheinend nichts miteinander zu tun haben, wären da nicht kleine, oft belanglos wirkende Berührungspunkte, die sich letztlich zu einem genialen großen Ganzen fügen. David Szalay, exzellenter britischer Erzähler mit kanadisch-ungarischen familiären Wurzeln, erweitert in seinem Roman „Turbulenzen“ diese Erzähltechnik auf insgesamt zwölf Episoden, die sich zu einer Flugreise rund um den Erdball summieren. In Wahrheit ist es ein emotionaler Nachtflug durch Innenwelten, die vor dem Zusammenbruch stehen. Jede der grandios verdichteten Geschichten schildert Zukunftsbekanntschaften von Passagieren und Passagierinnen. Sie führen flüchtige Gespräche, aber aus jeder dieser Begegnungen ergibt sich die nächste Episode, die sich letztlich als enorm soghafter Erzählreigen formieren – über gescheiterte Lieben, brüchige Ehen, familiäre Betrügereien, über das verpfuschte Dasein, das nahende Wegsein und den Tod. Eine Schicksalssymphonie in Worten, knapp, eindringlich, raffiniert und subtil, trügerisch durch den nüchternen Ton, doch zwischen den Zeilen schwingt die Trauer mit.
Emotionaler Crash
Die Chronik der seelischen Bruchlandungen beginnt in London. Eine rund 70 Jahre alte Mutter besucht ihren Sohn und erfährt, dass er Krebs hat. Auf dem Rückflug nach Madrid sitzt sie neben einem Geschäftsmann aus Senegal. Als dieser weiterreist nach Dakar, ahnt er noch nichts vom Absturz einer Air-France-Maschine. Seine Frau und seine Kinder zählen zu den Opfern.
In Episode drei fliegen zwei Piloten auf dem Weg von Dakar nach São Paulo über die Absturzstelle im Atlantik, am Zielort erfährt einer der beiden vom Crash seiner Beziehung. Weiter geht es, Schlag auf Schlag. Die Flüge führen nach Kanada, Indien, Ungarn, ehe sie am Ausgangsort London enden - aber mehr darüber zu erzählen, wäre Verrat. Stets benötigt der Autor nur wenige Seiten, um nahendes Unheil zu avisieren, nie schlägt er moralsierende Töne an, der weitere Verlauf der Geschichten bleibt ungewiss, er findet seine Fortsetzung in den Köpfen der Leserschaft.
Fall ins Bodenlose
David Szalay formt, Stein für Stein, ein faszinierendes, nur knappe 130 Seiten umfassendes, düster schillerndes Mosaik einer Gesellschaft, die sich zumindest privat oft in trügerischer Sicherheit wiegt. Diese „Turbulenzen“ zählen zu den Meisterwerken des Jahres. Sie liefern keine Antworten auf die Fragen, was denn nun Zufall, Schicksal oder sei, sie öffnen die Augen für den jähen, unvorhergesehenen Fall ins Nichts.
Lesetipp: David Szalay. Turbulenzen. Hanser, 135 Seiten, 19,60 Euro.
Werner Krause