Der Verlockung nachzugeben, mit diesem Namen zu spielen, verbieten die journalistischen Anstaltsregeln, also sagen wir es so: Die Entscheidung der Schwedischen Akademie, den Literaturnobelpreis 2020 an die US-Lyrikerin Louise Glück zu vergeben, ist ein Gedicht, eine Wahl voll Poesie und Klugheit. Und natürlich auch eine überraschende Wahl, denn dieser Name fand sich auf keiner Buchmacher-Liste und in keinem Spekulationsforum. Die Wettbüros sahen zuletzt die aus Guadeloupe stammende Autorin Maryse Condé als aussichtsreichste Kandidatin. Der Akademie dürfte es nach den unappetitlichen Skandalen in den eigenen vier Wänden und dem Handke-Serbien-Wirbel im Vorjahr vor allem darum gegangen sein, heuer keinen Staub aufzuwirbeln und eine möglichst friktionsfreie Entscheidung zu treffen. Das ist gelungen.
Alles ist relativ, nicht nur in der Physik, auch in der Literatur. Denn dass Glück hierzulande nur in Fachkreisen ein Begriff ist, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine vielfach ausgezeichnete und äußerst prominente Literatin ist, die sich anlässlich der Verleihung eines „Human Rights“-Preises schon einmal in den Armen von Ex-US-Präsident Barack Obama wiedergefunden hat. Ihr erster Gedichtband („Firstborn“) erschien 1968. Ihm folgten elf weitere Gedicht- und einige Essaybände.
Auf Deutsch erschienen u. a. die Bände „Averno“, mit dem sie 2006 auch auf die Shortlist des National Book Award for Poetry kam, und „Wilde Iris“. „Averno“ ist der Name eines vulkanischen Kratersees in der Nähe von Neapel. Für die alten Römer war dort der Eingang zur Unterwelt. Die Mythologie, die Schönheit und Unerbittlichkeit der Natur, der Mensch zwischen den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe, Leben und Tod – das sind die immer wiederkehrenden Themen, um die sich Glücks schreiberisches Schaffen drehen. Aber auch interfamiliäre Verflechtungen und Verhärtungen verwandelt diese viel gepriesene Dichterin in einen vielstimmigen Chor aus fein ziselierten Worten und Sätzen.
In der Begründung der Schwedischen Akademie hieß es, Louise Elisabeth Glück sei „für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht“, ausgezeichnet worden. Zu Glücks bisherigen Würdigungen gehören 1993 der Pulitzer-Preis für Dichtung, 2014 der National Book Award für Lyrik und heuer der „Tomas Tranströmerpriset“. Von der Kritik wird stets die schnörkellose, lyrische, aber nie pathetische Sprache Glücks hervorgehoben. Die Lyrikerin sei zugleich „robust und verletzlich“, ihre Gedichte strahlen eine „starke und tief bewegende“ Präsenz aus.
Die neue Nobelpreisträgerin wurde am 22. April 1943 in New York City geboren und lebt in Cambridge, Massachusetts. Sie ist Professorin an der Yale-Universität in New Haven und dort auch „Writer-in-Residence“. Ihre Eltern sind der Geschäftsmann Daniel Glück und Beatrice Glück. Die Großeltern väterlicherweise waren ungarische Juden, die in die USA emigrierten. Glück sei „überrascht, aber glücklich“ gewesen, als sie von der Nachricht erfuhr, sagte Mats Malm, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie. Aber jetzt hat Malm mit dem Namen gespielt – zumindest in der Übersetzung.
Dies ist der Augenblick, in dem du
die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst,
und am dunklen Himmel
die Vögel beim nächtlichen Wanderzug.
Es bedrückt mich zu denken,
dass die Toten sie nicht sehen –
diese Dinge, die uns selbstverständlich sind,
sie entschwinden.
Was wird die Seele dann tun, um sich zu trösten?
Ich sage mir, vielleicht braucht sie
diese Freuden nicht mehr; vielleicht ist es
einfach genug, nicht zu sein,
so schwer vorzustellen das auch ist.
Louise Glück, Die nächtlichen Wanderzüge