Die unbekannte Geburtshelferin des Dadaismus
Sie kannte alle: Den Revoluzzer Lenin, den Weltautor und Außenseiter der literarischen Szene, Hermann Hesse, und den odysseen-määndernden James Joyce. SIE kannten jedoch die wenigsten. Die Literaturwissenschaft konnte sich auf ihre literarischen Konstanten offenbar leichter Reime bilden. Die Rede ist von Emmy Ball-Hennings. Muse, Überlebenskünstlerin und Schriftstellerin im ausgehenden 20. Jahrhundert. Fernando Gonzales Viñas und Jose Lazaro haben das bewegte Leben der Emmy Hennings, die die "sinnlose" Kunst des Dadaismus geboren hat, in eine einzigartige Erzählung gebettet. Ersterer hat sich als Historiker umfassend mit dem Werk des Dadaismus beschäftigt, letzterer die trockene Literaturgeschichte lebhaft als Comic zum Leben erweckt.
Der Sinn ist der treueste Platzhalter des Menschen. Wie das Leben von Sinnen und mit Sinnen sich über die Menschen beugt, zeigt diese grafische Comic-Autobiographie mit dem Titel "Alles ist Dada". Mit skizzenhaften Andeutungen und fundiertem geschichtlichen Know-How werden hier der Anfang und die fortschreitende Sinnsuche der Protagonisten des Dadaismus um 1910 beleuchtet. Während des ersten Weltkriegs, dieser Schlacht ohne Sinn vor den Toren des zerrüttelten Europas, bunkerten sich zahllose Sinnsuchende in der Schweiz ein um der Kunst einen Sinn abzugewinnen.
Vinas und Lazaro stellen die Leser (und Betrachter) nicht vor vollendete Tatsachen. Man ist sozusagen Geburtshelfer der Dadaisten, beobachtet manch talentierten, manch grottenschlechten Literaten beim Denken und Sinnieren. So wie einst Emmy Hennings, die es mit ihren schillernden Auftritten schaffte, die Dada-Geburtsstätte „Cabaret Voltaire“ über Wasser zu halten. So hatte die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts überhaupt erst eine Überlebenschance. Manchen Denkern im Kreis der Emmy Hennings gelangen Meisterwerke, anderen nur rudimentäre "Dada"-Laute. Was am Ende der brillanten Biographie gewiss ist: Jede noch so erhabene künstlerische Idee stapft zu allererst in naiven Kinderschuhen daher.
Fernando González Viñas/José Lázaro. Alles ist Dada.
Ammy Ball-Hennings. Avant-Verlag. 232 Seiten, 25,70 Euro.
Liebe in Zeiten von Instagram
Eine andere Art der Sinnsuche, nämlich die Suche nach dem Sinnlichen betreibt Liv Strömquist. Die schwedische Autorin und Feministin sorgt seit Jahren für die wohl verrücktesten "Graphic Novels", die der Buchmarkt zu bieten hat. In ihrem 2017 erschienen Werk „Der Ursprung der Welt“ widmete sich die Schriftstellerin der Tabuisierung des weiblichen Geschlechtsorgans, im 2019 veröffentlichten „I’m every Woman“ schrieb Strömquist laut, aber nicht brüllend gegen die Nivellierung weiblicher Denkerinnen an. Ihr neuestes Werk „Ich fühl's nicht“ beschäftigt sich im Vergleich dazu mit einem relativ „gewöhnlichen“ Thema: der (scheiternden) Liebe.
Ausgangspunkt des Buchs „Ich fühls nicht“ ist die sprunghafte Liason-Begabung von Schauspieler und Hollywood-Preisträger Leonardo di Caprio, dem die „echte“ Liebe bis dato verwehrt blieb. Strömquist holt auf 170 Seiten zum Rundumschlag gegen die kapitalistische Gewinngesellschaft, den Gesundheitswahn der „modernen Leute“ und das mangelhafte Vertrauen in „wahre Liebe“ aus. In ihren Werken kollidieren zwei Textsorten, die sich bisher wohl eher kaum in ein und dasselbe Buch verirrt haben: Der philosophische Versuch und der schalkhafte Comic-Strip. Ein Kollision ohne Schaden.
„Ich fühl's nicht“ liest sich wie eine Collage aus Popkultur und 1000 Jahren Philosophie. Dem Leser/der Leserin begegnen Sokrates, Kierkegaard, Beyonce oder die Boulevard-Zeitung Daily Mail. Dabei nimmt Strömquist die „Gesellschaft Ego“ in Zeiten von Instagram, in der die Akteptanz und die Loyalität in Beziehungen immer mehr weicht, aufs Korn. Skepsis und kreative Wut können so wunderbar sein - und Comics so gehaltvoll.
Liv Strömquist. Ich fühl's nicht. Avant-Verlag.
176 Seiten, 20,60 Euro.
Die Göttin der Jagd
Deutlich düsterer fällt das Graphic Novel „Bezimena“ aus, das als weiterer Geheimtipp unter den graphischen Romanen gehandelt werden darf. Auch diesem Werk liegt ein feministischer Gedanke zu Grunde, wenn man so will. Feministisch dann, wenn man die Frage nach Aufrichtigkeit und Menschlichkeit mit diesem Terminus beantworten möchte. Die Autorin Nina Bunjevac verarbeitet in der beklemmenden Erzählung ihre Kindheit, in der sie einer sexuellen Misshandlung knapp entkommen ist und verwebt das Erlebte eindrucksvoll mit der griechischen Sage von Artemis und Siproites.
„Bezimena“ ist mehr Andeutung als Anklage, mehr Zeichnung als Geschichte. Das bildgewaltige Werk der kanadisch-jugoslawischen Künstlerin Bunjevac spart nicht mit obszönen Szenen und beklemmender Atmosphäre. Man fühlt sich von Artemis, der griechischen Göttin der Jagd, auch nachdem man das Buch fertiggelesen hat verfolgt. Das vermögen gute Werke anzurichten. Gut so.
Nina Bunjevac. Bezimena. Avant-Verlag. 224 Seiten, 30,90 Euro.