"Taxi-Driver" nach Schweizer Art
Es muss auch für begangene journalistische Gaunereien ein Recht auf Verjährung geben. Zumal sich der Täter ja selbst bestraft, weil er sich, meist lebenslänglich, jeglicher Glaubwürdigkeit beraubte. Verweise bleiben, notgedrungen, ohnehin nicht aus. Fällt also der Name TomKummer, ist zumindest eine kurze Anmerkung erforderlich. Ja doch, das ist jener aus der Schweiz stammende, angebliche Hollywood-Starreporter, der, runde 20 Jahre ist es her, deutsche Qualitätsmagazine reihenweise mit gefälschten oder irgendwo abgeschriebenen Promi-Interviews belieferte. Irgendwann aber muss der einstige Lügenbaron entdeckt haben, dass die Literaturlandschaft ein weites Feld ist, in der fast jede Form von dichterischer Wahrheit nicht nur erlaubt, sondern erwünscht ist. Von hoher Qualität sollte sie halt sein. Vor drei Jahren versuchte Tom Kummer, durch das Schreiben und mit dem Roman „Nina & Tom“ über den Krebstod seiner Frau Nina hinweg zu kommen, bediente sich aber erneut bei einigen anderen Autoren. Es gehöre eben zum „Gestaltungsprinzip“ des Schriftstellers, hieß es damals.
Nun ist Kummers neues Werk erschienen, „Von schlechten Eltern“ heißt es, wer Bücher schätzt, in denen auch Hoffnung oder Trost ihren Platz befinden, sollte wenigstens vorgewarnt werden. Es ist eine albtraumhafte Reise durch Schweizer Nächte, düster, traumatisch, halluzinativ. Der Protagonist, der keineswegs zufällig Tom Kummer heißt, kutschiert stets in der Nacht für ein nobles Taxi-Unternehmen vorwiegend afrikanische Geschäftsleute quer durch die Schweiz. „Mister Driver“ wird er meist von seinen reichen Fahrgästen genannt, das genügt dem wortkargen Fahrer durchaus. Er ist häufig in Erinnerungen versunken, führt stille Gespräche mit seiner verstorbenen Frau und lässt so nebenbei auch seiner Wut über den verlogenen Wohlstandsstaat freien Lauf. Wie ein Leichentuch breite sich der Nachtnebel über die Schweiz, heißt es in einer Passage.
Der Roman ist nicht nur eine eindrucksvoll gelungene Mischung aus literarischem Roadmovie mit gespenstischen Einschüben, es ist vor allem ein berührender Abstecher in das Reich zwischen Leben und Tod, in Grenzerfahrungen. Der Erzählstil ist temporeich, dennoch mündet er nicht selten in die Stille, die jeder große Verlust mit sich bringt. Ein vielschichtiges, bedeutsames Wechselspiel zwischen der ramponierten Welt da draußen und den seelischen Schäden tief drinnen.
Tom Kummer. Von schlechten Eltern. Tropen, 245 Seiten, 22,70 Euro
Der geniale Geschichts-Stenograph
Unter den persönlichen Lieblingsautoren nimmt Éric Vuillard einen Sonderstatus ein. Der französische Literat ist auch ein exzellenterFilmemacher, offenkundig förderte dies auch seine genialen Fähigkeiten, in enorm bildhafter Sprache große historische Ereignisse enorm fokussiert und mit präzisem Blick knapp, bündig und ganz und gar auf Wesentliches konzentriert, in faszinierender Kürzestform zu rekapitulieren. Meist genügen ihm lediglich 100 Seiten für seine Geschichtsaufarbeitungen, natürlich aus sehr unkonventionellem Blickwinkel. Das war in „Die Tagesordnung“ über ein Geheimtreffen von Hitler mit den deutschen Industriebonzen der Fall, das fand in seiner Chronik über die französische Revolution eine famose Weiterführung. „Der Krieg der Armen“ führt zurück ins 16. Jahrhundert und in die Epoche der Bauernkriege. Es ist ein literarisches Denkmal für ThomasMüntzer, den Sozialrevolutionär und Kämpfer gegen Unterdrückungen, der aber auch düstere Seiten hatte. Es ist aber auch eine zornige Brandrede, ganz im Sinne von Münster, gegen die Tyrannen und die verlogenen Feudalherren. „Daraus könnte man eine unerhört abenteuerliche, aber schmachvolle Geschichte basteln“, schreibt Vuillard. Er setzt das, direkt, unverblümt, frei von Bastelei und Helden-Verehrung, in die Tat um – auf 64 Seiten. Sie reichen, um etliche historische Romane und Geschichtswerke aus dieser Zeit alt und gemästet aussehen zu lassen.
Érich Vuillard. Der Krieg der Armen. Matthes & Seitz, 64 Seiten, 16,50 Euro. Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Gegen den schönen Schein
Es gibt eine Magie der Orte, gleichrangig mit ihr kann, im schönsten Fall, die dort entstehende Magie der Worte sein. Andrzej Stasiuk, dieser ebenso sprachmächtige wie feinsinnige Erzähler von Weltgeltung, ist ein Kosmopolit, aber nicht selten reicht ihm sein Heimatdorf in den polnischen Beskiden, um von dort aus ziel- und treffsicher über den Zustand der Welt zu beurteilen und scheinbar kleinen Dingen und Ereignisse aus seiner dörflichen Umgebung exemplarische Größe zu verleihen. Seine „Beskiden-Chronik“ besteht aus mehr als 70 Text-Miniaturen, Alltagsbeobachtungen, Porträts von Dichtern, Gedanken über die Unsterblichkeit, Polemiken über die politische Lage in Polen und den Nachbarstaaten. Nicht selten halten sich dabei der Pessimismus und die Ironie die Waage. Eingefügt sind Reiseberichte, wobei ihm mit seiner zynischen Reportage über Manhattan ein spezielles Prunkstück glückte. Eine unentbehrliche Sammlung, Lektionen über den zweiten Blick, um sich nicht vom schönen Schein täuschen zu lassen. Und Stasiuk ist der beste Lehrherr weit und breit.
Andrzej Stasiuk. Beskiden-Chronik. Suhrkamp, 303 Seiten, 23,70 Euro.
Schauderhafter Schwarzwald
Seine Tätigkeit vergleicht er mit jener eines „Schatzgräbers“. Auch so kann man Geniestreiche umschreiben. Denn dem Wiener Übersetzer und Autor Alexander Pechmann sind etliche wunderbare Prunkstücke zu verdanken, abgesehen von seinen Biographien, etwa über Hermann Melville und Mary Shelly. Pechmann übersetzte u. a. Werke von William Butler Yeats, Jack London, Henry James und Bram Stoker, zuletzt sorgte er mit seiner Neuübersetzung der Erzählungen von Edgar Allan Poe für berechtigtes Aufsehen. Gut möglich, dass ihn dieses Umfeld inspirierte. Auf jeden Fall trumpft Alexander Pechmann auch als Autor klassischer Schauerromane seit einiger Zeit groß auf. „Die zehnte Muse“ ist sein bereits dritter Abstecher in das gepflegte Gruselgenre. Die Geschichte führt zurück in das Jahr 1905 in mitten hinein den Schwarzwald, wobei Pechmann virtuos Fakten und Fiktionen vermengt. Denn einer der Protagonisten ist der phantastische Horrorautor Algernon Blackwood (1869 – 1951), der in seiner Jugend tatsächlich einige Zeit in einem Internat im Schwarzwald lebte. Auf seiner Reise zurück an den Ort seiner Schulzeit trifft er auf einen Maler, der sich eigentlich nur völlig entspannt auf die Suche nach neuen Motiven machen möchte. Daraus wird nichts. „Die zehnte Muse“ ist eine exzellent recherchierte, im Mysteriösen und auch Kriminellen angesiedelte Geschichte, raffiniert aufgebaut, sprachlich erstklassig. Schauderhaft gut eben.
Alexander Pechmann. Die zehnte Muse. Steidl, 175 Seiten, 18,50 Euro.
Werner Krause