Hoher Suchtfaktor

Vor nicht allzu langer Zeit kürten prominente Kritiker William Boyd zum besten britischen Autor der Gegenwart. Derlei Wertungen oder Rankings sind keineswegs frei von Subjektivität, ganz gewiss aber hat der grandiose schottische Erzählkünstler einen Fixplatz in der weltweiten obersten Liga der literarischen Verführer inne. Der nächste Roman von William Boyd, der seine familiären Wurzeln in Ghana hat, ist für Oktober avisiert. Ein Anlass mehr, in der Zwischenzeit eines seiner frühen Meisterwerke zur Hand zu nehmen. Wer diesen kosmopolitischen Dichter noch nicht kennt, wird garantiert begeistert sein, wem das Werk geläufig ist, der darf sich auf die Wonnen des Wiederlesens freuen.

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Der Schweizer Kampa-Verlag, der sich sämtliche Rechte für die Romane von Boyd sicherte, öffnete mit „Die blaue Stunde“ eine spezielle erzählerische Wundertüte, 1995 erstmals erschienen, dann einige Zeit vergriffen. Das Epos gleicht einem raffiniert geschnürten All-inklusive-Paket. Darin enthalten: ein Liebes- und Abenteuerroman, eine spannende Reise um die halbe Welt, Kriegsgeschichte und ein Krimi. Alles nimmt seinen Lauf in Los Angeles im Jahr 1936. Die Architektin Kay Fischer, 32 Jahre alt, hat privat und beruflich einige Krisen zu bewältigen; einen dubiosen älteren Herrn mit eher ungepflegtem Äußeren, aber gepflegten Manieren, der sie dringend sprechen möchte, empfindet sie als zusätzliche Behelligung. Nach längerem Drängen stimmt sie doch einem Gespräch zu, dabei eröffnet ihr der Mann, dass er ihr wahrer Vater sei. Die anfängliche Skepsis, mehr noch, Empörung, weicht nach weiteren Treffen wachsender Neugier, befeuert durch verblüffende Detailkenntnisse des anfangs unerwünschten Gastes. Gemeinsamkeiten häufen sich, die Spuren führen zurück an den Beginn des 20. Jahrhunderts und nach Manila auf den Philippen. Dort wurde Kay geboren, dort arbeitete der Mann als Arzt, dort tobte damals der Krieg zwischen den USA und dem Inselreich. Dies sind nur einige Eckdaten einer enorm soghaften, sehr verzweigten Geschichte, reich an Emotionen aller Art, verblüffenden Wendungen, perfekt eingesetzt. Ein Glanzstück brillanter Dichtkunst mit hohem Suchtfaktor, der vielleicht eines Tages als „Boydismus“ in die Geschichte eingehen wird.
William Boyd. Die blaue Stunde“. Kampa, 400 Seiten, 22,60 Euro.

Scharfe Wortmunition

Finnland ist nicht nur ein wichtiges Exportland für schräge Literatur und exzellente Krimis, im hohen Norden können auch ganz andere, extrem raue Töne angeschlagen werden. Primär von Autorinnen. Dies belegen Sofi Oksanen und Katja Kettu, dies beweist beklemmend und schonungslos Rosa Liksom. Ihr Roman „Die Frau des Obersts“ ist eine radikale, mitunter obszöne und grausame Abrechnung mit all den Verdrängungen der Schlingerkurse ihres Heimatlandes in den Jahren des Zweiten Weltkrieges und mit der Tatsache, dass der Faschismus in Finnland zu schauderhaften Auswüchsen führte -  ehe der aus strategischen Gründen besonders begehrte Staat 1944 fast nahtlos zum Stalinismus umschwenkte. So ist denn auch diese Frau des Obersts, die an ihrem Lebensabend in einer kleinen Hütte ihr durch Gehorsam, Fanatismus, Antisemitismus und eheliche Gewalt geprägtes Dasein frei von Reue zu Papier bringt, nur eine exemplarische Figur.

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Schon in frühen Jugendjahren liest die Ich-Erzählerin Hitlers „Mein Kampf“, sie sehnt sich nach dem Führer und fügt sich völlig widerspruchslos der NS-Maxime, wonach zum „Mannsein“ auch eheliche Tyrannei gehöre, dass der Mann der Frau moralisch überlegen sein soll und die weibliche Unterwerfung eine Grundvoraussetzung für eine scheinbar intakte, durch Brutalität geprägte „Liebe“ sei. Schon in jungen Jahren heiratet sie einen in Deutschland ausgebildeten Parade-Repräsentanten all dieser Lügengebilde, 28 Jahre älter als sie selbst, mit tiefbrauner Seele. Literatur, die bis an die Grenze des Erträglichen geht, provokant, pervers, geprägt durch einen völlig lapidaren, beiläufigen Erzählton, der doppelte Wirkung zeitigt. Man habe damals schon Böses getan und alle möglichen Dummheiten begangen, die man aber am besten vergessen sollte, heißt es in einer Passage dieses aufwühlenden, auch historisch bedeutsamen Werkes, reich an scharfer Wortmunition, die von der Autorin treffsicher eingesetzt wird. Sie glaube, schreibt die alte Frau, dass es nach Ende des Krieges mit den Nazis „nicht vorbei war, sondern dass immer neue Nazis und Faschisten aufkämen, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gäbe“. Weil der Mensch eben so ist. Wie wahr, wie zeitnah. Selten wurden ideologische Idiotie und Verblendung auf so heimtückische Weise entlarvt, nicht zuletzt, weil sie in trügerisch harmlosen Uniformen salutieren. Ein Schlüsselwerk über geistigen Gleich- und Stechschritt, weit über Finnland hinaus
Rosa Liksom. Die Frau des Obersts. Penguin, 224 Seiten, 20,60 Euro.

„Kaltblütig“, schwedische Variante

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Einige Zeit gehörte Peter Englund der damals nicht mehr ganz ehrenwerten Jury für die Vergabe des Literaturnobelpreises an, ehe der Schwede 2015 die Tür zuschlug und sich voll und ganz dem eigenen Literaturschaffen widmete. Er tat gut daran. Der Historiker und Literaturexperte verfügt nicht nur über enorme Fachkenntnisse, er ist auch ein exzellenter Erzähler. So ist denn auch „Mord in der Sonntags-Straße“ weitaus mehr als die Rekonstruktion eines Verbrechens, das Mitte der 1960er-Jahre ganz Schweden erschütterte, es ist, darüber hinaus, ein zuweilen zynisches Zeit- und Sittenbild einer Nation, die damals an den schier endlosen sozialen Aufstieg glaubte und geraume Zeit ja auch etliche Bestätigungen dafür fand. Englund schildert den Mord an einem jungen Mädchen nicht aus der Sicht des allwissenden Erzählers, er begibt sich selbst noch einmal auf die mühsame, monatelange Spurensuche. Dies erhöht die Spannung erheblich, zumal, soviel kann ja verraten werden, die Hinweise auf den Täter spärlich bleiben; was bleibt, sind – vor Gericht anfechtbare – Indizien. Stilistische Parallelen zu Ferdinand von Schirach sind unverkennbar, bei Englund gesellt sich noch das große Gespür für Zeitkolorit hinzu. „Kaltbültig“, Truman Capotes Klassiker, in der schwedischen Variante, nicht reißerisch, sondern betont sachlich und daher doppelt mitreißend.
Peter Englund. Mord in der Sonntags-Straße, Rowohl Berlin, 336 Seiten, 22,70 Euro.

Pionier der modernen Reiseliteratur

Zugegeben, die mangelnde Mobilität kann zuweilen schon belastend sein, die Vielzahl an Reisewarnungen ist auch wenig ermunternd. Aber es gibt ja noch andere Möglichkeiten, die eigenen vier Wände zu verlassen – beflügelt durch wunderbare Reiseliteratur zum Beispiel. Da steht unter den persönlichen Lieblingsbüchern momentan Robert Byron wieder an oberster Stelle. Zu seinen Vorfahren zählte Lord Byron, umtriebig, gelehrt, snobistisch – Eigenschaften, die auch Robert Byron reichlich besaß. Drei markante Werke verfasste er nur, aber er ist der Pionier der anspruchsvollen Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Bewunderern zählte Patrick Leigh Fermor, der seinerseits wiederum Bruce Chatwin in seinem Schreiben und Denken maßgeblich prägte, womit sich ein Kreis bedeutsamer Weltenforscher schließt.

Knappe 21 Jahre alt war Byron (geboren 1905), in seiner Studienzeit eng mit dem Zyniker Evelyn Waugh befreundet, als er mit Freunden im noblen Cabrio durch Europa düste (das Resultat ist das famose Werk „Europa 1925“). Sein Hauptwerk, „Der Weg nach Oxiana“ (1933) führte ihn über Palästina und Persien bis nach Afghanistan (eine Würdigung dieses Klassikers folgt), 1928 reiste er in mehreren Etappen auf den heiligen Berg Athos in Griechenland. Robert Byron konnte erbarmungslos zynisch sein, seiner Neigung zum Dandytum ließ er als Autor ebenfalls häufig und gerne freien Lauf, aber er war auch ein enorm präziser Menschenbeobachter, der nur wenige Sätze benötigte, um markante Figuren zu erschaffen. Gut möglich, dass ihm da seine Leidenschaft für das Zeichnen und das Fotografieren wichtige Hilfe leistete.

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Die Athos-Wanderungen münden häufig in sensible  Naturschilderungen, gepaart mit exzellenten Kenntnissen der Architektur. Robert Byron konnte Steine zum Reden bringen, ihnen kleine und große Geschichten entlocken und diese in prachtvolle Geschichten einfließen lassen. Und der Respekt und die Ehrfurcht schossen dem begnadeten Spötter oft genug gehörig in die Knochen. Das Wandern, das Wundern – hier erfährt es eine neue, fantastische Dimension. Byron sollte man fix buchen.
Robert Byron. Der Berg Athos – Reise nach Griechenland. Die Andere Bibliothek, Band 422, 300 Seiten, 45,30 Euro.