Beginnen wir mit dem Titel und einer Szene aus Ihrem Roman: Kindersoldaten werden im Iran-Irak-Krieg in den 1980er-Jahren mit dem Versprechen, nach ihrem Tod im Paradies zu erwachen, mit dem Bus in den Heiligen Krieg geschickt.
NAVA EBRAHIMI: Ja, und Ali Najjar, eine der Hauptfiguren des Romans, sitzt in diesem Bus, er ist damals 13 Jahre alt und sinniert über sein ganz persönliches Paradies, in dem er den ganzen Tag Fußball spielen und Eis essen kann. Dann aber denkt er sich: „Mein Sitznachbar stellt sich das Paradies sicher ganz anders vor. Sollte es so sein, dass jeder sein Paradies selbst gestalten konnte?“ Ja, kommt Ali Najjar zum Schluss, denn schließlich konnte das Paradies seines Sitznachbarn seine Hölle sein. Den Titel habe ich gewählt, weil ich mich viel damit beschäftige, wie wir auf diesem Planeten unser aller Zusammenleben gestalten können; wie das ist mit der Verantwortung füreinander und wie wir hier in Frieden und Saus und Braus leben können, während in der Nachbarschaft die schlimmsten Dinge passieren. Und durch die Globalisierung ist ja die ganze Welt zur Nachbarschaft geworden. Wir können nicht mehr sagen: Das ist so weit weg, das geht uns nichts an. Das Beziehungsgeflecht hat sich radikal geändert. Wir sind alle zusammengerückt, ob uns das gefällt oder nicht.
Ihr erster Roman war eher eine Fiktionalisierung Ihrer eigenen Biografie zwischen Teheran und Köln, der neue Roman spielt natürlich auch in Ihren Lebenswelten, aber der Rahmen ist ein viel größerer. Wie sehen Sie den Unterschied zwischen diesen Büchern?
NAVA EBRAHIMI: Ich verstehe, dass Sie als Leser das so sehen, aber ich selbst empfinde das gar nicht so.
Aber Sie selbst sind in Ihrem ersten Roman viel präsenter.
NAVA EBRAHIMI: Ja, das auf jeden Fall. Ich habe dort viel zur Sprache gebracht, womit ich mich in Kindheit und Jugend alleingelassen gefühlt habe. Themen wie: Wie ist das, zwischen zwei Kulturen zu leben? Als Kind beobachtet man ja ständig und weiß nicht, wie man sich in der neuen Welt, in die die Eltern gegangen sind, richtig verhält. Für meine Mitschüler war immer alles selbstverständlich, für mich nicht. Ich musste alles, selbst die alltäglichsten Dinge, erlernen. Es dauerte sehr lange, all das – die Unsicherheit, die Angst, die Zweifel – zu artikulieren. Ich habe es eigentlich erst mit meinem ersten Buch geschafft.
Und das zweite Buch jetzt? Wie hat es Sie gefunden?
NAVA EBRAHIMI: Bei mir beginnt immer alles mit den Figuren, dann erst kommt die Handlung. Und im Falle von Ali Najjar gibt es einige reale „Vorbilder“. In den 80er-Jahren wurden ja sehr viele Kinder und Jugendliche von ihren Eltern in den Westen geschickt bzw. geschleust, damit sie nicht von den Iranern als Soldaten rekrutiert werden konnten. Durch Brainwashing haben sich auch viele Kinder selbst gemeldet.
Dieser Ali Najjar versucht später in Deutschland, besonders erfolgreich und deutsch zu sein. Eine andere Romanfigur, Sina, ist Halbperser – er wiederum möchte besonders persisch sein. Zersplitterte Identitäten allesamt?
NAVA EBRAHIMI: Suchende auf alle Fälle. Ich glaube übrigens, es gibt nirgendwo so viele Halbiraner wie in Österreich, vor allem in der Medienwelt. Und den FPÖ-Politiker Udo Landbauer nicht zu vergessen. Bei einigen Halbiranern, die ich kenne, habe ich eine große Sehnsucht verspürt. Einerseits nach dem Vater, wenn dieser abwesend ist, aber auch nach dem Kulturkreis, aus dem sie kommen. Andere wiederum versuchen, ihre Kultur möglichst schnell abzustoßen.
Jetzt sind wir im Großbereich Integration.
NAVA EBRAHIMI: Ein problematisches Wort, finde ich, denn es beinhaltet schon, dass man einen Teil von sich weggibt. Sprache zum Beispiel. Natürlich muss man die Sprache jenes Landes, in das man kommt, erlernen, aber die Sprache seines Herkunftslandes muss man deshalb doch nicht aufgeben, die ist ja auch ein Geschenk.
Es gibt von Ihnen das schöne Zitat: „Ich fühle mich als Deutsche, trage aber meinen persischen Garten in mir.“
NAVA EBRAHIMI: Das Deutsche in mir merke ich ja erst so richtig, seit ich in Österreich lebe.
War das für Sie eine Art zweite Migration?
NAVA EBRAHIMI: Ein wenig schon. In Österreich eckt man mit deutscher Direktheit oft an. Das Persische mit seinen oft umständlichen Umwegen und dem Herumreden um den heißen Brei kommt ja dem Österreichischen viel näher als dem Deutschen.
Und was blüht in Ihrem persischen Garten?
NAVA EBRAHIMI: Im Alltag schaffe ich es eher selten in diesen Garten, nur in speziellen Momenten. Und dann staune ich, was dort noch immer wächst. Wenn ich diesen Garten betrete, sind alle Empfindungen sofort wieder präsent. Die Musik, die Gerüche, die ganze persische Welt. Es passiert, dass ich die Pflanzen länger nicht gieße, aber sie verdorren trotzdem nicht.
In Ihrem Roman geht es auch um Bindungen in unterschiedlichen Gesellschaftssystem. Im Iran gibt es das Kollektiv der Großfamilie, hier bei uns die exzessive Individualisierung. Gibt es eine ideale Form des Zusammenlebens?
NAVA EBRAHIMI: Eine gute Frage - und ich habe in Wahrheit auch keine endgültige Antwort darauf. Ich habe aber schon das Gefühl, dass in Deutschland und Österreich die Menschen zunehmend auf sich allein gestellt sind – und wenn dann Kinder da sind, wird es oft schwierig. Dann gibt es diese enge Konzentration auf Mutter, Vater, Kind. Alle versuchen, es irgendwie zu managen, und oft bleibt da zu wenig Luft zum Atmen. Eltern werden zu Organisationsteams, zu Kleinfirmen. Da sehe ich schon die Gefahr, dass eigentliche Bindungen verloren gehen. Die große Frage für mich ist: Was hält uns noch zusammen?
Das Thema Freiheit ist ein weiterer Angelpunkt im Roman.
NAVA EBRAHIMI: Im Iran wird man immer gefragt: „Wie ist das denn, in Europa in Freiheit zu leben?“ Die Menschen dort können sich das gar nicht vorstellen. Und wir hier leben in Freiheit und sind uns gar nicht bewusst, was dieses Privileg bedeutet.
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