Sie sind mit dem Roman „Winters Garten“ 2014 ins grelle literarische Scheinwerferlicht eingetaucht. Können Sie sich im Nachhinein erklären, welchen Nerv Sie mit diesem hochgelobten Buch getroffen haben?
VALERIE FRITSCH: Dieses Buch scheint die Menschen fundamental berührt zu haben. Obwohl es ein so dunkler Roman ist, in dem es viel um Abschiede und Verluste geht, war es trotzdem eine Art Trost für die schlimmen Dinge.
Es ist oft die Rede von Ihrer Sprache. Sie klinge älter, als die Schreibende ist. Können Sie diesen Punkt nachvollziehen?
VALERIE FRITSCH: Die Welt ist für mich mit Buchstaben und Wörtern codiert. Und wenn man das übersetzen möchte, braucht man Wörter. Und die Wörter, die ich verwende, sind die einzigen, die ich zur Verfügung habe. Das ist mein Ton, mein Blick auf die Welt.
Sie haben sich fünf Jahre Zeit gelassen für Ihren neuen Roman.
VALERIE FRITSCH: Bücher müssen erst nachwachsen im Kopf. Das braucht Zeit, wie bei einem guten Baum, sonst kann nichts Neues entstehen. Wenn man ein Buch fertig hat, ist man ja erst einmal leer. Dann muss man wieder etwas klüger werden, wieder etwas leben, sonst wiederholt man sich.
Die Gretchenfrage an Schreibende ist ja immer: Wie viel eigenes Leben findet man in einem Roman?
VALERIE FRITSCH: Alles ist auf eine bestimmte Weise autobiografisch. Das meiste, worüber man schreibt, ist nicht fremd, auch wenn es einem nicht selbst widerfahren ist.
Zum neuen Roman, er heißt „Herzklappen von Johnson & Johnson“. Eigenartigerweise habe ich in „Winters Garten“ einen Satz gefunden, der leitmotivisch über dem neuen Buch stehen könnte. Er lautet: „Was man nicht über die Lippen bringt, bringt man nicht übers Herz.“
VALERIE FRITSCH: Der Satz passt tatsächlich gut. Im neuen Roman geht es um die Sprachlosigkeit und das Schweigen und darum, dass nichts weitergehen kann, wenn nichts aufbricht. Und ich versuche, diese Sprachlosigkeit in Sprache zu gießen, was vielleicht ein Paradoxon ist. Außerdem ist es ein Roman über Abwesenheiten und Unverfügbarkeiten verschiedenster Art. Es geht auch um Distanzen – physischer und psychischer Natur.
Und immer wieder das Schweigen.
VALERIE FRITSCH: Es geht um die Abwesenheit von Sprache, die ein Mittel ist, uns miteinander vertraut zu machen. Und wenn die Sprache fehlt, kommt auch keine Nähe zustande.
Unter all dem leidet Alma, die Hauptfigur des Romans, der eine Familien- und Generationengeschichte erzählt. Almas Welt ist „kulissenhaft, brüchig, wackelig, unstimmig, bevölkert von müden Marionetten mit einem schwarzen Fleck auf dem Herzen“. Welche Flecken sind das?
VALERIE FRITSCH: Alma wächst in einem Haushalt auf, in dem ständig Theater gespielt wird, und alle Figuren darin versuchen, ihre Lebensgeschichten, die ja allzu oft Lebenslügen sind, für sich selbst und für andere so glaubhaft wie möglich darzubieten. Und Alma hat schon als Kind das Gefühl, dass es da Dinge gibt, die man zerbrochen hat, die man überdeckt, die falsch sind. Der schwarze Fleck ist immer ein anderer. Aber alle Menschen in diesem Buch spielen um ihr Leben, damit man diesen Fleck ja nicht sieht.
Sogar Emil, Almas Kind, spielt – nämlich den Schmerz, den er bedingt durch eine Krankheit nicht empfinden kann.
VALERIE FRITSCH: Ja, und auch dieses Kind leidet an einer Sprachlosigkeit – an einer Sprachlosigkeit des Körpers, der zu den schlimmsten Dingen, also den Verletzungen, schweigt.
Der Roman hat auch einen starken historischen Kontext.
VALERIE FRITSCH: Die Großeltern sind die Kriegsgeneration. Und Alma ist die Erste, der es reicht, die das Nichtgesagte durchbrechen will. Diese Familiensysteme des Schweigens sind ja sehr fragil. Und wenn man darin herumwirbelt, kommt es natürlich zu Verletzungen. Der Großvater zum Beispiel erinnert sich ja an viel, aber er spricht eben nicht darüber, ist in seiner Kapsel eingeschlossen.
„Der Großvater entzog sich der Pflicht des Erinnerns“, schreiben Sie.
VALERIE FRITSCH: Die Nachfolgegenerationen sehen das so. Aber es ist wohl eher ein Wunsch, der oftmals nicht erfüllt wird.
Hat der Großvater also seine Seelensprachlosigkeit an den Enkel weitergegeben, der an einer Körpersprachlosigkeit leidet?
VALERIE FRITSCH: Es scheint so, als wäre der ganze Schmerz dieser Familie, über den nie gesprochen wird, aufgebraucht. Insofern ist Emil eine Spiegelfigur. Er wird darauf trainiert, was Schmerz ist, aber selbst fühlt er ihn nicht, er muss ihn sich erst erarbeiten.
Man würde ja meinen: Kein Schmerzempfinden, wie schön! Aber ...
VALERIE FRITSCH: Ja, aber. Denn Alma fragt sich, wie man einem Kind beibringt, ein Mensch zu sein, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt. Was es mitfühlend macht für andere, wenn es nicht weiß, wie groß ein Schmerz sein kann. Das heißt, ohne Schmerzempfinden kein Mitgefühl.
Am Ende des Buches tritt Alma eine lange Reise an. Sie führt nach Kasachstan. Dorthin, wo der Großvater zumindest einen Teil seiner Schuld abgebüßt hat.
VALERIE FRITSCH: Alma verspricht sich von dieser Reise so viel, aber nichts davon tritt ein. Trotzdem war die Reise gut und wichtig für sie, denn sie hat in diesem Land und auf dem Weg dorthin eine gegenwärtigere Welt gefunden, die nicht so sehr von der Vergangenheit geprägt ist. Der Roman selbst, das Schreiben daran, war übrigens auch eine wilde Reise. Und den Schnaps zum Abschluss habe ich mir verdient.
Buchrezension:
Kunstvolle, aber nicht künstlich gedrechselte Sätze, die Stifter’sche Entschleunigung ausstrahlen, und die – im Gegensatz zu den schwergewichtigen Themen – eine ungeheure Ruhe in diese stürmische Romanwelt bringen, ziehen sich auch durch den neuen Roman von Valerie Fritsch. Vordergründig geht es um die großen Brocken Schuld und Sühne. Im tiefen Inneren dieses Romans brodelt die Distanz zwischen Menschen, die aus dem Verlust der Worte resultiert. Dass das Dialogische in diesem Buch völlig fehlt, ist zunächst irritierend, aber natürlich folgerichtig. Valerie Fritsch ist eine sprachsensible Erzählerin, die ihre Figuren ans Licht trägt, ohne vorzugeben, dass sie dort einen Stammplatz haben werden.
Valerie Fritsch: "Herzklappen von Johnson & Johnson". Suhrkamp. 176 Seiten, 22,70 Euro.