Ian McEwan hat nicht den ersten Roman über den Brexit geschrieben, wohl aber die erste Groteske. "Die Kakerlake" ist teils zum Bersten komisch, aber auch zum Heulen tragisch - und nicht zu Unrecht umstritten. Nie zuvor ist der Erfolgsautor mit der Kritik an real existierenden Politikern derart an die Grenzen des guten Geschmacks gegangen - oder gar darüber hinaus, wie manche Kritiker meinen.
Nur wenige Wochen nach der englischen Originalausgabe von "The Cockroach" hat der Zürcher Diogenes-Verlag den 144-Seiten-Text jetzt auf Deutsch veröffentlicht. Da lässt sich der britische Premierminister am Telefon vom amerikanischen Präsidenten für seinen Kampf um den Brexit tätscheln - bei McEwan verbrämt als "Reversalismus" - und druckst dann herum: Er habe da noch eine persönliche Frage. Hatte Mr. President früher vielleicht auch mal sechs Beine? Schlagartig ist die Leitung tot. Und man ahnt es: Auch der mächtigste Mann der Welt ist ein Ungeziefer in Menschengestalt.
Sechs Beine und zwei Fühler. Schaben (Blattodea), im Volksmund Kakerlaken, gelten als die ekelerregendsten Insekten. Nichts ist ihnen artfremder als Sauberkeit und geordnete Verhältnisse. In Fäulnis gedeihen sie. Großbritannien im Chaos, herbeigeführt durch eine absurde Politik, die aus einer funktionierenden, mit der EU vernetzten Wirtschaft eine große Maschine zur Geldvernichtung macht. Davon träumt die Kakerlaken-Unterwelt. Die Logik: im Chaos gibt es mehr Unrat, Schaben leben dann besser.
Und mit dieser Mission krabbelt einer der cleversten Sechsbeiner in die Downing Street Nr. 10. Er schlüpft in den Körper von Jim Sams, Premierminister des Vereinigten Königreichs und unnachgiebiger Kämpfer für den "Reversalismus". Franz Kafka lässt grüßen. In seiner 1912 entstandenen Erzählung "Die Verwandlung" wacht Gregor Samsa eines Tages auf und stellt fest, dass er in ein Ungeziefer verwandelt wurde. McEwan hat für seine oft amüsante, aber streckenweise auch recht bemüht wirkende Brexit-Novelle die umgekehrte Metamorphose gewählt - nicht Mensch zu Ungeziefer, sondern Ungeziefer zu Mensch.
"Wenn das Parlament geschlossen wird, so dass die Regierung in einem kritischen Moment nicht herausgefordert werden kann, wenn Minister schamlos lügen wie einst die Sowjetführer, wenn Brexiters in hohen Positionen die Katastrophe eines No-Deals geradezu herbeiflehen – dann muss ein Schriftsteller sich fragen, was er tun kann", wird McEwan vom Diogenes-Verlag zitiert. Und: "Es gibt nur eine Antwort darauf: schreiben."
Man kann beim Schreiben freilich auch in Rage geraten. Besonders wenn Wut die Feder führt. Nicht genug damit, dass in Kopf und Körper des Premiers eine Kakerlake wohnt. Das ganze Regierungskabinett besteht aus Schaben auf zwei Beinen. Mit Ausnahme des Außenministers. Aber den stellt Boris, Verzeihung, Jim, bald mit einer Rufmordkampagne kalt. Sexuelle Belästigung. Frei erfunden zwar, aber wirksam. Sag #MeToo und der Mann ist erledigt. Das Kakerlaken-Kabinett hat nun freie Bahn. Ausgerechnet der linksliberale "Guardian" hat sich blauäugig dafür einspannen lassen.
In den realen britischen Medien waren die Reaktionen auf die Brexit-Groteske des hoch dekorierten Schriftstellers recht gemischt. Und keineswegs so positiv wie bei früheren Werke, darunter "Abbitte" (Deutsch 2002), "Saturday" (2005), "Kindeswohl" (2014) und zuletzt "Maschinen wie ich" (2019).
Im echten "Guardian" äußerte der irische Literaturkritiker Fintan O'Toole Zweifel, dass der 71-jährige McEwan mit seiner scharfen Satire auch nur einen Brexit-Anhänger zum Besseren bekehrt. "In der Ära von Donald Trump und Boris Johnson erschaffen die Herrschenden eigene Selbstparodien und lassen sich damit von ihren Fans bewundern."
Brillant findet O'Toole zwar, wie McEwan mit dem "Reversalismus" (dabei würden zum Beispiel die Deutschen freiwillig ihre Export-Autos mit Bargeld vollstopfen und an Großbritannien verschenken) den Brexit ad absurdum führt. Aber er gibt auch zu bedenken: "Politische Gegner mit Kakerlaken zu vergleichen, ist eine toxische Metapher mit übler politischer Vorgeschichte, und es ist daher schwer, McEwans Novelle ohne ein gewisses Unbehagen zu lesen."
Die den Tories nahe stehende konservative Wochenzeitschrift "The Spectator" rügte, es sei unangebracht, demokratisch gewählte Politiker als Kakerlaken darzustellen: "Das war das Wort, mit dem die Völkermörder in Ruanda ihre Anhänger zum Handeln aufriefen."
Zweifellos werde das Buch in wohlhabenden Pro-EU-Hochburgen als humorvoll und genial gefeiert, schrieb Robert Shrimsley, Redaktionsleiter der "Financial Times". Er fügte hinzu: "Für mich, zumindest, symbolisiert es einfach die selbstgerechte Unfähigkeit, jene Hälfte der Bevölkerung zu verstehen, die nicht über genügend angeborene Vernunft verfügt, mit McEwan übereinzustimmen."
Thomas Burmeister/dpa