Man kennt sie zumindest aus Gérard Corbiaus Film "Farinelli": Kastratensänger, um die im Barock ein regelrechter Hype entfacht wurde. Mitten in diese bizarre Welt führt der erste auf Deutsch geschriebene Roman der in Moskau geborenen und in Wien lebenden Journalistin und Autorin Daria Wilke. Der Coup: "Die Hyazinthenstimme" spielt nicht im 18. Jahrhundert, sondern in der Gegenwart.
Schauplatz des Romans, aus dem Wilke morgen, Donnerstag, zum Abschluss des Literaturfestivals O-Töne im Haupthof des Wiener Museumsquartiers liest, ist das verwunschene Schloss Settecento in der Südoststeiermark. In aller Verborgenheit hat sich eine geheimnisvolle Persönlichkeit, die "Zar" genannt wird, hier ein Elite-Institut für die Pflege einer eigentlich längst untergegangenen Kunstgattung aufgebaut: der Barockoper. Hier werden in der Bibliothek und im Archiv unermesslich wertvolle alte Partituren aufbewahrt und erschlossen, hier wird Sängernachwuchs aus aller Welt ausgebildet, der von einem zwielichtigen Talentescout herangeschafft wird. Die jungen Männer bzw. ihre Eltern gehen dabei eine Art Teufelspakt ein: bestmögliche Betreuung und Ausbildung gegen Kastration. Denn nur so erhalten die Buben ihrer Stimme jenen göttlichen Schmelz, der ihre reichen Gönner zum Schmelzen bringt.
Die titelgebende "Hyazinthenstimme" ist eine Stimme, "weiß und rein, (...) so vollkommen wie Hyazinthenduft und genauso schwer zu behalten". Da hilft nur eine kleine Operation zur rechten Zeit. Der sich auf Settecento um die Zöglinge kümmernde Arzt trägt den Spitznamen "der Fleischer". Das grausame und verbotene Tun, das einem betuchten Fanclub das Personal für geheime Privataufführungen liefert, findet in einer Grauzone von Überredungskunst, sozialer Not und sanftem Druck statt. Gelingt der Ausbruch aus den gefängnisähnlichen Bedingungen, fangen die Probleme erst so richtig an. Denn einerseits findet sich jemand, der in einer künstlichen Parallelwelt erzogen wurde, in der tatsächlichen Welt nur schwer zurecht, andererseits verfügen jene, die sich ein so perverses Hobby leisten können, auch über die Mittel, deren Entdeckung zu verhindern.
Rund um den Zaren und die jungen Sänger Matteo, Timo, Lukas und Doru entwirft Wilke ein opulentes, überladenes Szenario, das an manche Filme von Peter Greenaway erinnert, und den Soundtrack von den Tonkünstlern des Barocks bezieht. Es ist ein Schwelgen in einer Welt, die für ihren Schönheitsbegriff beinahe jeden Preis zu zahlen bereit war, in der Göttlichkeit und Künstlichkeit der Vorzug gegeben wurde vor Menschlichkeit und Natürlichkeit, ohne den rechten Grund dafür zu liefern. Der Geruch der Hyazinthen wird als schwer und betörend beschrieben. Sich ihm zu lange auszusetzen, kann Kopfweh verursachen. Als probates Gegenmittel empfohlen: Gründlich lüften!
Daria Wilke. Die Hyazinthenstimme. Residenz Verlag, 352 Seiten, 22 Euro
Wolfgang Huber-Lang/APA