Interview. Die diesjährige Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher ist Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und Mutter eines Dreijährigen.
Die 33-Jährige fordert wieder mehr Mitmenschlichkeit ein.

Die Menschen in Ihren Texten suchen allesamt ihren Platz in der Welt. Warum tun sich Ihre Heldinnen und Helden damit so schwer?
BIRGIT BIRNBACHER: Es ist ja keine sehr innovative Feststellung, wenn man behauptet, dass es heute komplizierter geworden ist. Früher hat man einen Beruf ergriffen, und in dem ist man dann ein Leben lang geblieben. Die Verhältnisse heute sind sowohl im Beruflichen wie im Privaten unübersichtlicher und komplizierter geworden.
Weil viele Optionen auch zu einer Desorientierung führen können?
Natürlich. Wenn ich bei Lesungen in Schulen bin, beobachte ich bei vielen Jugendlichen, dass sie zwar sprachlich eine unglaublich selbstbewusste Eloquenz an den Tag legen, was in meiner Schulzeit – ich bin auf dem Land aufgewachsen – so nicht war. Ich habe aber manchmal den Verdacht, dass der Zugang zur eigenen Innenwelt für diese jungen Menschen durch die äußeren Umstände schwieriger geworden ist.


Inwiefern?
BIRGIT BIRNBACHER: Dieses In-sich-Hineinhören ist heute nicht so gefragt. Es scheint nicht zeitgemäß zu sein, sich zu fragen, wer man ist, weshalb man so ist, was einen ausmacht. In den aktuellen Jugendstudien zeigt sich, dass das rational-ökonomische Moment heute weit stärker ausgeprägt ist als vor 20 Jahren. Was wohl auch mit der Finanzkrise 2008 zusammenhängt, und mit dem damit einhergehenden Bewusstsein: Mich soll es nicht erwischen. Wer miterlebt hat, dass der Vater entlassen wurde, hat Angst. Nach Lesungen werde ich von Schülern immer gefragt, wie viel man als Autorin verdient, und die nächste Frage ist gleich, wie man da versichert ist. Die finanzielle Absicherung ist wesentlich.


Vor allem viel Geld verdienen, dann bin ich frei?
BIRGIT BIRNBACHER: Ja, das ist der Nährboden, auf dem diese wirtschaftliche Orientierung wächst. Unsere ehemalige Regierung hat ja auch deutlich gezeigt, was mit denen passiert, die nicht fähig sind, etwas zu leisten.


Was hat sie gezeigt?
BIRGIT BIRNBACHER: Beispielsweise die Streichung der Notstandshilfe. Dieser Einschnitt trifft viele, die ohnehin schon nichts haben. Junge Erwachsene etwa, die psychisch erkrankt sind, und immer von der Notstandshilfe gelebt haben, da sie die Mindestsicherung ja nicht bekommen, weil sie noch nie im Arbeitsprozess waren. Die hatten auf einmal nichts mehr. Null Euro. Diese Menschen waren der türkis-blauen Regierung nichts mehr wert.


Nur den Tüchtigen gehört die Welt?
BIRGIT BIRNBACHER: Das ist entsetzlich! Es ist falsch, so zu tun, als läge es in jedermanns Hand, dass jeder das erreichen kann, was er möchte. Das ist schlicht falsch. Als Sozialarbeiterin erlebe ich das ja. Denn es wird bei diesem Leistungsdenken immer ausgespart, dass es Menschen gibt, die gern würden, aber nicht können. Manche haben einfach Pech im Leben, manche werden krank, manche werden früh Eltern, sind alleinerziehend. Die Gesellschaft besteht nicht nur aus jungen, gesunden, leistungsstarken Leistungsträgern, die dazu da sind, dass sie im Leben ihren Auftrag erfüllen, dabei möglichst viel Geld scheffeln, um ein möglichst guter Wirtschaftsfaktor zu sein, um möglichst viel einkaufen zu können und dabei möglichst wenig nachdenken. Später sollen sie gute Pensionisten werden, am besten mit möglichst wenig staatlicher Pension, und am besten wäre es, wenn sie früh sterben, damit sie nicht zu teuer werden. Eine solche Gesellschaft will ich nicht.


Mit Ihrem Text „Der Schrank“, in dem es auch um prekäre Arbeitsverhältnisse geht, haben Sie heuer den Bachmann-Preis gewonnen. Die Arbeitslosenrate bei uns ist rückläufig. Geht es den Zahlen besser als den Menschen?
BIRGIT BIRNBACHER: Es gibt Menschen, die nicht in der Arbeitslosenstatistik aufscheinen, die aber so wenig Einkommen haben, dass es finanziell für sie besser wäre, sie wären arbeitslos. Ich darf mir nicht nur anschauen, wer arbeitet und wer nicht, ich muss mir auch anschauen, unter welchen Bedingungen Menschen arbeiten. Und es gibt sehr, sehr viele in Österreich, die weder Arbeitslosengeld noch Mindestsicherung beantragen, obwohl sie es machen müssten.


Warum nicht?
BIRGIT BIRNBACHER: Weil sie sich genieren. Die soziologische Kategorie Schicht oder Milieu ist diesbezüglich heute kein Anhaltspunkt mehr, weil es das Prekariat in jedem Milieu gibt. Auch im akademischen.


Ist das neu?
BIRGIT BIRNBACHER: Neu ist, dass es mehr oder weniger normal wird, dass die Menschen Postdocstellen bekommen: Akademiker, die ihren Doktor an einer Uni gemacht haben und dann ein befristetes Dienstverhältnis über 20 Stunden bekommen – meist für ein halbes Jahr, im besten Fall für zwei Jahre. Diese Menschen sind in einem Alter, in dem sie eine Familie gründen wollen oder schon gegründet haben und dann mit Mini-Anstellungen auskommen müssen. Das ist normal geworden. Das ist neu. Im akademischen Bereich haben wir es heute mit einem unglaublichen Prekariat zu tun.


Soziologen sprechen von „sozialer Verwundbarkeit“, wenn der Arbeitsplatz unsicher, die Arbeit schlecht bezahlt und der arbeitsrechtliche Schutz nur teilweise gegeben ist. Ist das ein Phänomen, das um sich greift?
BIRGIT BIRNBACHER: Die vermeintliche soziale Verwundbarkeit ist fast bedeutender: die Abstiegsangst der Menschen. Die zieht einen Rattenschwanz an Vorurteilen nach sich, auch die Fremdenfeindlichkeit. Mittlerweile ist es ja so, dass es viele Menschen in Kauf nehmen, dass es ihnen selbst schlechter geht, wenn es nur dem anderen auch schlechter geht. Diese Verrohung ist erschreckend. Das muss aufhören. Wir brauchen wieder mehr Mitmenschlichkeit. Die eigene Abstiegsangst führt dazu, dass Gruppen und Menschen abgewertet werden. Das greift um sich. Dem müsste die Regierung etwas entgegensetzen. Bei den Gefühlen der Menschen muss man ansetzen, und ihnen Zuversicht vermitteln. Gefragt ist das Programm Zuversicht. Neue Wohnformen wie Mehrgenerationenwohnungen wären ein Ansatz. Da spüren Menschen direkt, dass es Netze gibt, die sie auffangen, und sie sich weniger fürchten müssen vor dem Altsein. Keine Privatversicherung der Welt kann diese Zuversicht geben. Da werden wir uns etwas überlegen müssen. Durch Wahlversprechen oder die Pensionsversicherung allein wird sich da nichts ändern, und es ändert sich auch nichts, wenn man denen, die ohnehin nichts haben, noch etwas wegnimmt.


Sie selbst müssen hart im Nehmen sein, wenn Sie am Bachmann-Wettlesen teilgenommen haben.
BIRGIT BIRNBACHER: Ja. Aber das bin ich natürlich nicht. Die Bedrohung, dass man dort das Gesicht verlieren könnte, ist keinem Teilnehmer egal. Und ich bin sowieso kein Mensch, der sich gut abgrenzen kann, mir ist nichts egal.
Was machen Sie mit dem Preisgeld, den 25.000 Euro?
Nicht ausgeben, sondern so verwenden und gut einteilen, dass ich länger davon leben und weiterschreiben kann.


Wie bringen Sie die Arbeit als Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und Mutter eines Dreijährigen unter einen Hut?
BIRGIT BIRNBACHER: Obwohl ich einen Mann habe und auch ein gutes soziales Netz, ist es schwierig, weil der Tag eben nur 24 Stunden hat. Aber wichtiger ist es zu fragen, wie es eine Alleinerzieherin schafft, die zwar Vollzeit arbeitet, aber so wenig verdient, dass sie sich keine angemessene Wohnung leisten kann. Denn es ist auch für meine Generation noch ein Unterschied, ob man als Frau oder Mann auf die Welt kommt. Wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinwollen.