Ihr eigenes Leben sei doch viel zu unbedeutsam, um darüber ein Buch zu schreiben, sagt Elif Shafak. Es ist so ziemlich die einzige Aussage von ihr, die einer glatten Lüge gleichkommt. Denn mit all ihren Werken begab und begibt sich die türkische Autorin auf höchst gefährliches Terrain, jede ihrer Äußerungen hält die Zensoren auf Trab. Und die Gehasste des Sultans ist sie seit bald zwei Jahrzehnten. Als 2006 in ihrer Heimat der Roman "Der Bastard" erschien, der von den Vertreibungen und Massakern an den Armeniern handelt, musste sich die Literatin vor Gericht vorantworten. Aus "Mangel an Beweisen" wurde sie jedoch freigesprochen. Damals galt das als Zeichen einer politischen Öffnung; ein großer Irrtum, wie sich alsbald zeigte.

Aufbegehren

Mit ihren mittlerweile rund fünfzehn Werken, die in rund 40 Sprachen übersetzt wurden, hat die Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors längst einen Stammplatz in der Weltliteratur inne, Werke wie "Der Bonbonpalast" oder "Der Geruch des Paradieses" zählen zu Gegenwartsklassikern. Der Name Shafak gilt als Synonym für den Widerstandskampf, für das Aufbegehren gegen jede Art der Unterdrückung, für die Forderung nach Gleichberechtigung, für massive und offene Kritik an "Sultan" Erdogan. Natürlich stehen dabei die politischen Ereignisse in der Türkei im Mittelpunkt, aber sie liefern nur das Basismaterial für globale Unterdrückungsmechanismen. "Ich mag keine Identitäten, und ich mag keine Identitätspolitik, die uns auf eine einzige Identität reduziert", sagte Elif Shafak vor zwei Jahren, als sie den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels erhielt.

Hassfigur

Ihr Bestreben und ihr Verlangen ist es, die Welt besser, toleranter und humaner zu machen. Kämen derlei Anliegen aus dem Mund etlicher anderer Dichterinnen und Dichter, müsste man sie glatt als weltfremd und naiv bezeichnen. Aber Shafak lässt nicht nur Worte, sondern auch Taten sprechen. Und die konfrontiert ihre Leserschaft mit dem Schicksal von Unterdrückten und Randexistenzen, für die Begriffe wie Toleranz bestenfalls in den Bereich des Hohns gehören. In der türkischen Heimat brachte ihr das keineswegs nur Sympathie ein. Für einen konservativenTeil der Bevölkerung wurde Shafak zur Hassfigur. Ein Los, mit dem sie leben muss, zumal sie sich auch in türkischen Schriftstellerkreisen reichlich viele Feinde schuf. Denn ein Gutteil der Literaturszene ihres Landes sei ebenso patriarchalisch, sexistisch und homophob geprägt wie das Denken der Mächtigen.
Elif Shafak ist eine geistige und kulturelle Kosmopoliten, im Osten gleichermaßen daheim wie im Westen, geboren in Straßburg, mit Wohnsitzen in Istanbul und in London. Eine Pendlerin zwischen Welten, die sich in ihrem neuen Roman "Unerhörte Stimmen" in den Bereich zwischen Diesseits und Jenseits begibt.

Todeszone

Wissenschaftliche Studien belegen, dass das menschliche Gehirn nach dem letzten Atemzug noch weitere 10 Minuten und 38 Sekunden aktiv bleibt. Diese Erfahrung macht auch Leila, eine Prostituierte, die ermordet wird. Minute für Minute folgen Phasen der Rückblendungen, Erinnerungen an Freunde und Feinde, an Gerüche und Farben; all das mündet in die letzte, wichtigste Frage: wie konnte es zu ihrem Tod kommen? Dem endgültigen Verstummen geht die Lebensgeschichte einer couragierten Frau voraus, die in einem düsteren, begrenzten Randreich ihre eigenen Wege geht. Geschickt findet Elif Shafak die Balance zwischen tragischer und berührender Erzählweise, wobei es auch an durchaus unterhaltsamen und ironischen Tönen nicht mangelt. Eine unerhört wichtige Geschichte, geschrieben von einer herausragenden Schriftstellerin, die ganz genau weiß, auf welcher Seite des Lebens sie stehen will und dafür jedes Risiko in Kauf nimmt.
Der Name Shafak ist übrigens ein Pseudonym, denn eigentlich heißt die unbeugsame Dichterin Elif Bilgin; Safak (so die türkische Schreibweise) ist der Vorname ihrer Mutter. Und er bedeutet "Morgenröte". Wie passend in einer Zeit der grassierenden geistigen Abenddämmerung, die eines Tages doch wieder dem Licht weichen könnte.

Lesetipp: Elif Shafak. Unerhörte Stimmen. Kein & Aber, 432 Seiten, 24,70 Euro.