Eine Familiengründung sollte die Betroffenen glücklich machen - so ist das vorgesehen. Die in Wien lebende Südtirolerin Tanja Raich beschreibt in ihrem Debütroman "Jesolo" zu dem viel diskutierten Thema Mutterschaft eindrucksvoll den Zwiespalt zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Erwartungen, in den Frauen heute geraten, wenn sie Mütter werden.
Andreas Liebe zu ihrem langjährigen Freund Georg ist schal geworden. Er wird immer mehr wie sein Vater, isst mit offenem Mund, erdrückt sie mit seinen Wünschen nach Kindern und Hausbau. Jetzt mit Mitte 30 wird es Zeit für den "Ernst des Lebens", drängen Georg, die nestbauenden Freunde und die Schwiegereltern. Für Andrea fühlt sich das nicht richtig an. Genervt von den dauernden Fragen nach ihrem Kinderwunsch träumt sie von einem unabhängigen Künstlerleben in Madrid. Doch als sie nach einem Italien-Urlaub feststellt, dass sie ungewollt schwanger ist, ändert sich alles.
Ein Paar, das funktioniert
Wohl auch aus Angst kehrt sie zu Georg zurück, der glücklich ist, dass sich seine Träume nun erfüllen. Sie sind jetzt auch ein "Paar, das funktioniert". Entgegen ihrer Wünsche ziehen sie aufs Land ins Haus seiner Eltern, die sich wohlmeinend überall einmischen. Ihre Bedingungen für den Umzug, ihre Zweifel, ihre Wünsche werden beschwichtigt, fallen unter den Tisch, und sie fragt sich: "Warum kann ich nicht glücklich sein?". "Mit deinem Haus schlagen wir Wurzeln. Mit diesem Kind führen wir genau dieses Leben, das alle hier führen", muss die Protagonistin erkennen, ist aber unfähig, sich aus der Situation zu befreien. Denn schließlich ist die Familie "die Erfüllung. Eine wohlige Seifenblase, die nie zerplatzt."
Sie geht einen Kompromiss nach dem anderen ein, Glücksgefühle flammen, wenn überhaupt, nur kurz auf. "Mit jedem Ja rutsche ich weiter in die Scheiße hinein", so Andrea. Gute Ratschläge prasseln auf sie ein, sei es die Möbelberatung der Schwiegermutter, in der Mütterrunde, beim Schwangerschaftsyoga, bei der Geburtsstationsbesichtigung. Dazu stellen sich Erinnerungen an ihre eigene Mutter ein, die sie verließ, als Andrea zehn Jahre alt war. Auch der ihr entfremdete Vater sucht wieder Kontakt.
Das heranwachsende Kind in ihrem Bauch durchdringt ihr Leben wie Wasser, das überall einsickert. Es wird zu einem Meer, einer Welle, von der sie davongetragen wird, die alles in Trümmer schlägt. Ihre Projekte bei der Arbeit werden an andere verteilt, während sie sich an das Wort Mutter zu gewöhnen versucht: "Aber mich sehe ich nicht in diesem Wort. Wenn ich es oft hintereinander ausspreche, klingt es wie ein Motor, der nicht anspringt." Der Countdown bis zur Geburt läuft. Was sie selbst will, weiß sie da längst nicht mehr.
Das Ende der Unabhängigkeit
Über zehn Monate, die den Kapiteln entsprechen, erzählt Tanja Raich, die als 1986 Geborene selbst mitten in der Lebensphase ihrer Protagonistin steckt, in lakonischer Sprache aus der Perspektive von Andrea, die erkennen muss, dass ihr vormals unabhängiges Leben mit der Schwangerschaft vorbei ist. Raich studierte Germanistik und Geschichte und ist Programmleiterin im Kremayr & Scheriau-Verlag, für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien.
Frauen ihrer Generation führten ein selbstbestimmteres Leben als noch ihre Mütter und Großmütter, so Tanja Raich. "Sobald es aber um Familienplanung geht, kehren sich die Verhältnisse wieder um, und dieselben Frauen, unabhängig und selbstbestimmt, werden in traditionelle Frauenrollen gedrängt, weil es gesellschaftlich erwartet wird und politisch nichts unternommen wird, um diesen Umstand endlich zu ändern", sagt die Autorin. Mit ihrem Debüt ist ihr ein realitätsnaher Roman gelungen, in dem sich viele Frauen wiederfinden werden. Sie leistet damit einen mutigen Beitrag hin zu einem anderen Blick auf das Muttersein, das eben für viele Frauen wenig mit ewigem Glück zu tun hat.
Buchtipp: Tanja Raich: "Jesolo", Blessing Verlag, 224 Seiten, 20,60 Euro.
Angelika Grabher-Hollenstein