Vor 23 Jahren zeigte Georg Schmiedleitner am Stadttheater mit Turrinis „Sauschlachten“, was herauskommt, wenn er „einen Text mit einer gewissen Heftigkeit überprüft“. Der Produktion mit Erni Mangold, Gerhard Dorfer und der noch unbekannten Maria Hofstätter verdankt er den Ruf, ein „wilder Hund“ zu sein. „Ich habe die Fähigkeit, wie ein Archäologe tief hineinzugreifen, dahin, wo es dann unangenehm wird“, sagt der 62-Jährige. Im Hinblick auf seine Inszenierung des von Ewald Palmetshofer nachgedichteten Hauptmann-Dramas heißt das: Man landet bei den Urkonflikten der Menschheit. „Es ist ein archaisches Zerfleischungsszenario, was da passiert.“ Die fünf Nummern der Rockband „The Doors“ passen als Bühnenmusik – so der Regisseur – „wie die Faust aufs Auge“.
„Vor Sonnenaufgang“ ist Ihre erste Begegnung mit Ewald Palmetshofer. Was macht diesen Autor so spannend?
GEORG SCHMIEDLEITNER: Seine Sprache. Palmetshofer steht in einer Reihe österreichischer Autoren von Nestroy bis Schwab bis Bernhard und Jelinek, die ihr Selbstverständnis auf einer sprachlichen Durchdringung der Wirklichkeit gründen. Diese Reflexion über das Sprechen, den Sprechakt, die Sprache ist eine österreichische Spezialität, sowohl in der Dramatik als auch in der Romanliteratur. In dem Fall gibt die Übermalung von Palmetshofer dem Hauptmann-Stück ein inhaltliches Geländer, die Sprache wiederum ist seine Art von Interpretation und Neuentdeckung des Stoffes.
Die Martha, die bei Gerhart Hauptmann nicht in Erscheinung tritt, hat Palmetshofer neu bewertet. Haben die Frauenfiguren überhaupt bei ihm mehr Gewicht?
Die Martha ist eine richtig große Rolle und vor allem eine zentrale Figur der Hoffnung und der Depression und da sind wir schon beim Thema. Bei Hauptmann ist es der Alkohol, Kindesmissbrauch und Inzest, bei Palmetshofer verlagert sich das in die Krankheit des 21. Jahrhunderts, die Depression.
Ein Hauptaugenmerk liegt doch auch auf der politischen Auseinandersetzung zwischen dem links gebliebenen Freund,
der zu Besuch kommt, und dem nach rechts gedrifteten
Mann Marthas . . .
Wenn man genau hinschaut, ist es ein Klassentreffen von drei ehemaligen Kommilitonen, weil der Doktor gehört ja auch dazu. Das ist ja schon absurd. Bei dieser Zusammenkunft spürt man natürlich die Vergangenheit, das Auseinanderdriften, auch die Bruchlinien. Wobei Palmetshofer, und das rechne ich ihm sehr hoch an, nicht mit dem Holzhammer auf die politische Struktur draufhaut, sondern das ganz subtil anklingen lässt. Es wird weder über Ausländer noch über Rechtspopulismus gesprochen, aber es herrscht eine eigenartige Grundstimmung. Es gibt zwar eine große Auseinandersetzung im Stück, aber auch da wird nicht alles ausdiskutiert, die Reste bleiben als unbewältigt über. Das gibt dem Stück eine sehr gespenstische Note.
Wie kriegen Sie als Regisseur diese Reste in den Griff?
Die Sprache ist auch eine gewisse Regieanweisung. Es muss immer ein Abstraktionsmodus bestehen bleiben, sodass man nicht in ein heutiges Milieu verfällt, und die Figuren muss man in einem unbestimmbaren Ambiente belassen. Ein abstrakter Pavillon auf der Bühne wird immer mehr zu einer Art Labor, in dem die subkutanen Schichten dieser Patchworkfamilie freigelegt werden. Die Sprache ist fast Seziermesser-mäßig. Es gibt immer wieder absurde Pausen. Der Text führt über seinen Rhythmus aus dem Naturalismus raus und birgt eine gewisse Komik. Es ist eine Herausforderung für die Akteure, diesen Text flüssig zu kriegen, sodass man die Geschichte gut erzählt.
Wenn man Palmetshofer in der österreichischen Erzähltradition sieht: Setzen das österreichische Schauspieler gekonnter um?
Nein. Die Bühnensprache bleibt mit Ausnahme von Nestroy und Raimund doch Hochdeutsch. Aber man braucht Schauspieler, denen man zuhören kann. Die meiste Arbeit am Regieführen liegt darin, die Figuren mit dem Text kompatibel zu machen, dass man dranbleibt. Ich habe das Gefühl, die Spannungsebenen steigen von Minute zu Minute. Es ist zeitweise unerträglich, weil das, was ausgelassen wird, nicht gesagt und verschwiegen wird, so einen quälenden Grundakkord hinterlässt. Auch, wenn’s manchmal nett, verliebt und komisch ist.
Lässt Palmetshofer Alfred bei Helene bleiben?
Nein. Das ist ja das Erschütternde: zwischen Helene und Alfred ergäbe sich eine wunderbare Liebesgeschichte, die aber aufgrund der Familie nicht möglich ist. Eine Familie, die in ihrem Leid, in ihrer Depression die äußeren Einflüsse abwürgt. Das macht es schon sehr heutig und verständlich und tiefenpsychologisch sehr spannend. Viele Familien neigen ja dazu, sich bei Problemen abzuschließen gegenüber der Umwelt. Es ist so etwas wie der Infarkt einer Gesellschaft. Menschen erstarren geradezu in ihrer Depression, Beziehungen werden immer schwieriger. Das zeigt dieses Stück so toll. Die Schauspieler sind alle glücklich, weil es soviel hergibt. Von Probe zu Probe entdeckt man neue Dinge.
Was interessiert Sie am meisten?
Das Bloßlegen. Es fängt ja harmlos an. Man glaubt, es würde eine Familienkomödie entstehen, merkt aber sehr bald, dass das Stück wie mit Axtschlägen in die Familie hineinfährt. Es ist wie ein Vulkanausbruch. Das kommt so plötzlich daher, dass man richtig erschrickt, welche Dinge da gesagt werden. Und dann ist man ganz schnell weg von der Komödiantik, der Zuschauer sieht immer mehr die Katastrophe, die ganz langsam auf einen zusteuert. Wie in Lars van Triers Film „Melancholia“, wo der Komet auf die Erde zusteuert und eine Familie so tut, als wäre alles in Ordnung.
Uschi Loigge