Was soll aus dem Jungen bloß werden? Oder: Irgendwas mit Büchern“. Den Titel einer autobiographischen Skizze, der die seinerzeitige Sorge seiner Eltern zitiert, beantwortete Heinrich Böll selbst am besten. Mit seinem Leben. Seinem Tun. Seinem Denken. Denn „der sogenannte freie Schriftsteller ist eine der letzten Bastionen der Freiheit“.
Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke, Briefe, Essays ... Das waren die Zinnen von Bölls Bollwerk. Errichtet mit scharfem Geist. Steinernem Willen. Großem Mut. Gegen das Schweigen nach dem Weltkrieg, das Verdrängen des Holocaust. Gegen die Schatten der Nazivergangenheit, weiter geworfen von den alten Eliten. Gegen das Lechzen der Wohlstandsgesellschaft nach Konsum und Besitz. Gegen die Doppelmoral in Politik, Kirche, Gesellschaft. Und doch war die Gegnerschaft Bölls immer auch eine Befürwortung, frei nach dem Grundsatz: Nur wer liebt, darf kritisieren.
Böll erarbeitete sich so einen Rang, den er selbst stets abwehrte: Gewissen der Nation, moralische Instanz. „Unvergesslich: dieser wohltuende Mangel an Dämonie. Diese Stimme, das Gegenteil eines metallischen Organs, leise und vernehmlich auf Menschlichkeit beharrend, dem Spießertum in die Parade fahrend.“ So beschrieb ihn Willy Brandt, der Einzige übrigens, der in den 70ern in Deutschland einen höheren Bekanntheitsgrad hatte als Böll. Der Autor bezeichnete die SPD einmal als „mieseste aller Parteien“. Aber den Kanzler hatte er zum Bruder im Geiste, „weil es beiden darum ging, das Land endlich von den Folgen der Nazidiktatur zu befreien und in eine streitbare Demokratie zu verwandeln“, resümiert Norbert Bircher im neuen Buch „Mut und Melancholie“ den Briefwechsel der zwei.
Unterstellt wurde Böll, eine ganz andere Diktatur zu unterstützen. Den „roten Bruder“ traf nämlich der Vorwurf, die RAF zu verharmlosen, weil er Medien und speziell die „Bild“-Zeitung der dramatisierenden Berichterstattung über die Terrorgruppe zieh: „Es gibt auch eine Gewalt der Schlagzeile.“ Dafür bekam er eine Kanonade des Boulevardblatts aus dem Springer-Verlag zu spüren. Davon aufgestachelt, folgten Einschüchterungen anonymer Absender bis hin zu Morddrohungen.
Erst kürzlich veröffentlichte „Die Zeit“ einen bisher wenig bekannten Brief Bölls an RAF-Mitbegründer Horst Mahler aus 1972, in dem er die linksextremistische Terrorgruppe zu Gewaltverzicht aufrief: „Das Streben zur eigenen Freiheit darf die Freiheit der anderen nicht gefährden.“
Der Schriftsteller mit den melancholischen Augen, dem die Zigarette im Mundwinkel angewachsen schien, war ein Ermutiger und ein selbstloser Helfer, nicht nur für verfolgte Kollegen wie Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn. Auch das schürte die Meinung, Böll habe mehr durch seinen gesellschaftspolitischen Einsatz als durch seine Schriften gewirkt. Was ihm Unrecht tut.
„Wo warst du, Adam?“, „Gruppenbild mit Dame“, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, „Frauen vor Flußlandschaft“: Seine Bücher wurden nicht zufällig Klassiker. Sein wunderbares „Irisches Tagebuch“, das bestverkaufte seiner Werke, löste einen enormen Reiseboom auf die grüne Insel auf, die ihm und seiner Familie zwischendurch Heimat geworden war. Und 1972 erhielt er als erster Deutscher in der Nachkriegszeit den Literaturnobelpreis. Zu dessen Verleihung wollte Böll übrigens, sonst Tweed-Jackett und Baskenmütze gewohnt, nicht im Frack gehen: „Ich möchte ja nicht wie ein Pinguin ausschauen!“
Michael Tschida