Im selben Figurenkosmos im West-Berlin der Vorwendezeit angesiedelt, sei "Wiener Straße" dennoch "ein ganz anderes Buch" als die kultigen "Herr Lehmann"-Romane, betont Sven Regener im APA-Interview. "Es gehört nicht dazu, auch wenn es oberflächlich erstmal so aussieht."

Vier Freaks in einer Wohnung

Handlungstechnisch knüpft der Roman, der am 7. September als Buch und Hörbuch erscheint und sich auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis befindet, direkt an den finalen Teil der Lehmann-Trilogie (2001-2008), "Der kleine Bruder", an. "Das Ende war ja sehr attraktiv zum Weiterspinnen", so Regener, "weil klar war, dass diese vier Freaks zwangsweise in eine Wohnung ziehen." Die Rede ist von vier Neu-Berlinern Anfang 20 - neben dem genügsamen Frank Lehmann die "Extremkünstler" H.R. und Karl Schmidt sowie Chrissie, aufmüpfige Nichte von Café-Einfall-Besitzer Erwin. Letzterer übersiedelt die Gruppe im November 1980 aus seiner Bleibe in eine WG über seiner Kneipe an der Wiener Straße in Berlin-Kreuzberg, weil ihm Vaterfreuden ins Haus stehen.

Los wird er sie dadurch aber nicht, wie sich herausstellt: Allesamt plan- und mittellos, wollen sie in seiner Kneipe anheuern, ob nun als Putzkräfte, Barkeeper, Kuchenbäcker oder ausstellende Künstler. Die Ausgangslage, sagt Regener, "war fast eine gemähte Wiese für eine Art Sitcom, eine Situationskomödie, in der sich diese Leute gegenseitig in die Pfanne hauen". Zum sich entfaltenden Chaos tragen weiters u.a. österreichische Aktionskünstler, ein sensationsheischender Fernsehreporter, unfähige Baumarktmitarbeiter und ein pedantischer Kontaktbereichsbeamter bei. Das Ergebnis ist eine "schicksalhafte Verstrickung von diesen Leuten, die letztendlich zu dem Schwachsinn führt, zu dem sie führt" - lakonisch, kurzweilig und höchst unterhaltsam erzählt.

Reich an rasanten Dialogen

Reich an rasanten Dialogen und Sprüngen zwischen Perspektiven, Schauplätzen und Szenen, hebt sich der Roman stilistisch von den Lehmann-Büchern ab. "Das war keine bewusste Sache", meint Regener. "Man muss die Romane schreiben, wie man sie als Idee in den Kopf bekommt." Was ihm anfangs als Fernsehserie oder "Tür-auf-Tür-zu-Theater" vorschwebte, hat sich dann doch zum Roman entwickelt. "Literarisch kann ich mehr in die Figuren hineingehen und über ihre Gedanken viel Hintergrundwissen bringen. Das macht es leichter, sie zumindest zu verstehen", erläutert Regener. "Es ist immer ein Problem, wenn man nur über Leute lacht, und sich dabei nicht mit ihnen identifiziert."

Einmal mehr widmet sich der 56-Jährige jungen Erwachsenen. "Das ist ja ein tolles Alter: Das Leben geht gerade erst so richtig los, es ist voller Möglichkeiten, und zugleich sind die ersten Türen auch schon zugeklappt", meint der gebürtige Bremer, der selbst 1982 mit Anfang 20 nach Berlin zog und Teil der im Roman skizzierten Subkultur aus Punks, Musikern und bildenden Künstlern war. Letztere nehmen im neuen Roman viel Raum ein; das übergreifende Thema sei "der Kampf um die Kunst". "Es geht um Kunst und Kommerz eigentlich. Hier reden wir über eine Zeit, in der alternative Projekte plötzlich wirtschaftlich relevant wurden und den Leuten ein Auskommen ermöglichten. Dass das auf breiteren Füßen stand, fing damals an."

Vorreiter seien Gastronomiebetriebe, also Kneipen wie das fiktive Café Einfall gewesen, die anfingen, Kunst zu fördern und auszustellen. "Manches funktionierte, manches nicht", sagt der Autor über eine Künstlergeneration, "die sich von der ganzen Akademisierung emanzipiert hat". "Alles war möglich und jeder konnte mitmachen. Die Art von Chuzpe, die man damals mitbrachte, war schon eine große Sache." Mit Wertung aber halte er sich als Erzähler zurück. "Wenn man einigermaßen ehrlich mit sich selbst ist, weiß man, dass es da nichts zu beschönigen, aber eben auch nichts zu verteufeln gibt."

Viele Österreicher

Dass sich im Roman derart viele Österreicher tummeln - allen voran die als deutsche Hausbesetzer getarnten Aktionskünstler der ArschArt-Galerie -, kommt nicht von ungefähr. "Die Österreicher haben ein anderes, liebevolleres Verhältnis zu Kunst als die Deutschen", ist Regener überzeugt. "Vieles, was die Kunst betrifft, muss man in Österreich nicht erklären, weil es intuitiv verstanden und nicht nur als Vehikel für etwas anderes gesehen wird. In Deutschland ist es leider sehr verbreitet, Kunst als Mittel zum Zweck zu sehen."

Auch in einem anderen Aspekt habe es sich angeboten, Österreicher in die Handlung einzubauen: Heimweh. "Das traf jeden in Westberlin mal - auch die Franken, die Schwaben, oder mich als Bremer", so Regener, der mittlerweile seit 35 Jahren in Berlin lebt. "Auf eine Art war man sehr weit weg von zuhause, weil diese Mauerstadt so eine alte, fremde Welt war." Für die Österreicher, scherzt er, sei es "nochmal extra hart gewesen, im Herzen der preußischen Finsternis, beim Über-Erzfeind".

Einer der Figuren aus dem Roman begegnet man übrigens derzeit auf der großen Leinwand, wenn auch gealtert: Seit gestern, Donnerstag, läuft die Verfilmung des 2013 veröffentlichten Lehmann-Spin-Offs "Magical Mystery oder die Rückkehr des Karl Schmidt" in den österreichischen Kinos. Regener schrieb das Drehbuch. "Man verliert so viel bei einer Verfilmung, gewinnt aber auch viel", sagt er über den "durchaus schmerzhaften Prozess", den eigenen Roman zu kürzen, "zumal man ja mit dem Drehbuch an sich keinen Einfluss auf den Film hat." Regisseur Arne Feldhusen dürfte seine Sache nicht schlecht gemacht haben. "Der Film ist eigentlich ganz gut geworden, muss ich schon sagen."