Für Interessierte an der Weltliteratur zählt er zu den wichtigsten Stimmen des afrikanischen Kontinents. Für Zocker zählt er seit einigen Jahren zu den heißesten Kandidaten für den Literaturnobelpreis. Der Kenianer Ngugi wa Thiong'o (79) spricht über die Entkolonialisierung des Geistes durch die Sprache, über die Spenden Afrikas an Europa und über das Warten der anderen auf den Nobelpreis.
Sind Sie zum ersten Mal in Wien?
Ngugi wa Thiong'o: Nein, ich war schon einmal hier. Ich erinnere mich vor allem an den Stephansdom. Ich war fasziniert von dem Handwerk in dieser Kirche. Sie hat mich sehr beeindruckt.
Sie waren auf einer Missionarsschule. Welche Beziehung haben Sie heute zur Religion?
Ich habe eher eine Beziehung zur Spiritualität, jedes menschliche Leben strebt nach dem Spirituellen. Alle Religionen versuchen diesem Streben gerecht zu werden, aber viele ersticken es auch. Der Ritus soll ein Mittel des Spirituellen sein, aber oft wird er vom Mittel zum Zweck. Vor allem wenn wir es mit Religionen zu tun haben, die nicht mehr von Strukturen imperialer Macht zu trennen sind. Ich halte mich lieber an spirituelle Ideen, zum Beispiel von der Einheit allen Lebens.
Vier Ihrer Kinder sind ebenfalls Schriftsteller- allerdings schreiben sie auf Englisch.
Ja, was das betrifft, sind sie nur teilweise in meine Fußstapfen getreten. Ich wollte, dass sie das beste aus sich machen, auf welchen Weg auch immer sie aufbrechen - nun hat die Schwerkraft der Literatur vier von ihnen angezogen. Dass sie nicht in einer afrikanischen Sprache schreiben, hat schon für manche Diskussion zu Hause gesorgt, man muss es aber verstehen: Es ist nicht so schwer, in einer afrikanischen Sprache zu schreiben, aber fast unmöglich für einen jungen Schriftsteller, in dieser Sprache publiziert zu werden. Es gibt schlicht kaum ein Verlagswesen.
Sie haben ebenfalls auf Englisch angefangen, schreiben nun aber schon seit Jahren in Ihrer Muttersprache Gikuyu. Das verändert doch auch das Zielpublikum.
Natürlich. Wenn ich auf Englisch schreibe, dann wende ich mich per Definition nur an den Teil der afrikanischen Gesellschaft, der Englisch versteht. Das trifft natürlich auf den afrikanischen Mittelstand weitgehend zu - aber auch diese Menschen unterhalten sich in Gikuyu oder Kiswahili. Englisch, Französisch, Portugiesisch - das sind die Sprachen der Macht. Der Ämter, der Schulen. Es geht also um mehr, als verstanden zu werden, es geht darum, den Geist zu entkolonialisieren. Nur dann kann die intellektuelle Community in Afrika mit anderen Kontinenten in echten Dialog treten.
Sprachen, die eher spät zu Schrift- und Literatursprachen werden, müssen sich zuerst eine eigene Literaturgeschichte "erschreiben", eine Evolution im Eiltempo durchmachen - das muss für einen Autor eine ziemliche Herausforderung sein.
Das ist vor allem psychologisch sehr schwierig. Man fragt sich: Kann ich das überhaupt? Am Anfang war es schwer, dann sehr befreiend. Und es hat dazu geführt, meine Sprache und ihre Möglichkeiten schätzen zu lernen. Natürlich agiert man als Autor aber nicht in einem Vakuum. Ich kann nicht so tun, als hätte ich Dickens, Balzac und Tolstoi nie gelesen - das beeinflusst mich. Aber in Gikuyu beeinflussen mich die orale Tradition, die narrativen Formen und ihre spezifische Melodie - das mischt sich dann alles.
Heute Abend zur Lesung wird auch der kenianische Botschafter kommen. Sie leben seit den 1980ern nicht mehr in Ihrem Heimatland. Wie sieht Ihre Beziehung zu Kenia heute aus?
Heute ist es in Ordnung. Unter der Moi-Diktatur (Daniel Toroitich arap Moi war kenianischer Präsident von 1978 bis 2002, Anm.) war es sehr schwierig für mich und alle Schriftsteller. Heute ist es so wie überall: Die Intellektuellen sind anderer Meinung als die Machthaber (lacht). Aber sie werden dafür nicht mehr ins Gefängnis gesteckt oder ermordet. Das ist doch ein Fortschritt.
Sind Sie optimistisch für die Zukunft Ihres Landes?
Ich bin immer optimistisch für Kenia und für ganz Afrika. Wenn man sich überlegt, welche Hürden dieser Kontinent nehmen musste, die Sklaverei und die Kolonialisierung, dann ist es unvergleichlich und eigentlich unglaublich, dass wir überhaupt noch da sind. Afrika gibt und gibt seit 500 Jahren. Hier sieht man es meistens umgekehrt, dass Europa nach Afrika spendet - aber das Gegenteil ist der Fall. 90 Prozent der Ressourcen von diesem größten Kontinent der Welt gehen an westliche Konzerne. Es wird sehr unterschätzt, wie viel Afrika beigetragen hat zum westlichen Wohlstand. Vor diesem Hintergrund finde ich es großartig, wo die afrikanische Gesellschaft heute steht - auch wenn natürlich noch viele Berge zu besteigen sind. Allem voran muss Afrika die Kontrolle über seine Ressourcen zurückgewinnen.
Haben Sie vor, in Ihre Heimat zurückzukehren?
Ja, wenn ich an der Uni in Kalifornien in den Ruhestand gehe, dann kehre ich heim. Ich bin immer kenianischer Staatsbürger geblieben. Ich besitze diesen Pass wie einen Talisman.
Seit Jahren gelten Sie als einer der aussichtsreichsten Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Wie lebt es sich mit dieser Erwartung?
Ich schreibe nicht für Preise. Es ist schön, wenn sie kommen, eine schöne Anerkennung. Und ich sehe es auch schon als Anerkennung, dass so viele Menschen denken, dass ich diesen Preis verdienen würde. Aber ich warte nicht darauf. Das tun andere (lacht). Vor einigen Jahren haben die Journalisten schon am Tag vor der Bekanntgabe vor meinem Haus gecampt, sie wollten unbedingt das erste Interview mit dem Nobelpreisträger. Er ging dann an Mario Vargas Llosa. Und sie sahen so furchtbar enttäuscht aus! Meine Frau machte ihnen Kaffee und musste sie trösten (lacht). Der Verlag hatte schon ein Nobelpreis-Foto machen lassen - das Bild auf dem Plakat für heute. Und einen Termin für eine Pressekonferenz (lacht). Das war ihnen aber eine Lehre. Seitdem lassen sie das.
Maria Scholl