Mit Gefühl und Empathie erzählt sie von der Vielschichtigkeit des Lebens und lässt sich dabei von aktuellen Ereignissen und Chronik-Fällen inspirieren. Dacia Maraini, die Große Dame der italienischen Literatur, befasst sich in ihrem jüngsten Roman "Das Mädchen und der Träumer" mit den Grauzonen des Menschlichen und dem Verschwinden eines Kindes.

Männlicher Erzähler

Ein Krimi, aber auch eine Reise in die dunklen Seiten der Existenz ist Marainis Roman, der am Dienstag in deutscher Sprache im Folio-Verlag erscheint. Erstmals versetzt sich die 80-jährige Schriftstellerin in die Rolle eines männlichen Erzählers, den alleinstehenden Volksschullehrer Nani Sapienza. Der empfindsame Mann träumt von einem Mädchen, das seiner verstorbenen Tochter ähnlich sieht. Als er am Morgen danach von der vermissten Lucia im Radio hört, ist er überzeugt, dass sie es war, die ihm im Traum erschienen ist. Obwohl Polizei und Eltern nach vergeblichen Bemühungen die Suche nach Lucia aufgeben, hört Nani nicht mit seinen besessenen Nachforschungen auf. Die Suche nach Lucia wird zu einer Suche nach sich selbst.

"In Europa gibt es tausende Fälle vermisster Kinder. Die Polizei sucht danach, doch dann wird die Suche eingestellt. Aber der Lehrer Nani gibt nicht auf, er bleibt dran und er schafft es, seine Schulklasse miteinzubeziehen, indem er durch Geschichtenerzählen die Fantasie seiner Schüler anregt. Der Lehrer recherchiert Vermisstenfälle und findet sich plötzlich in der Welt der verschwundenen Kinder wieder", berichtet Maraini im Gespräch mit der APA in Rom.

Menschenhandel

Nani wird in eine schreckliche Welt versetzt und mit dem Thema Menschenhandel konfrontiert. "Ich selbst bin in diese Welt eingetaucht, um das Buch zu schreiben. Ich habe versucht, sie zu begreifen und habe mich bei Amnesty International informiert", so die Autorin.

Drei Jahre lang arbeitete Maraini an ihrem Roman und ließ sich dabei auch von der Chronik inspirieren. "Der Fall von Natascha Kampusch hat mich persönlich stark beeindruckt. Wenn man bedenkt, in welchen Zuständen und in welcher Angst dieses Mädchen gelebt haben muss... Beeindruckend ist, dass Gewalt gegen Kinder in allen Schichten verbreitet ist. Oft sind es gute Bürger, Familienväter, die dafür verantwortlich sind".

Bei seiner Suche nach der vermissten Lucia wird der Lehrer gleichzeitig immer mehr auch mit seinem Vaterschaftswunsch konfrontiert. "Meiner Meinung nach wird der Vaterschaftswunsch in unserer Kultur verleugnet. Erziehung und Betreuung besonders der jüngeren Kinder gelten als Aufgabe der Mutter. Aber das ist falsch. Auch Väter wollen Eltern sein. Nur verleugnen viele diesen Wunsch, weil er ihnen unmännlich erscheint", meint die im toskanischen Fiesole geborene Schriftstellerin.

Favorit Heinrich Böll

Über zwölf Romane Marainis wurden in den vergangenen Jahren mit großem Erfolg ins Deutsche übersetzt. "Ich bin der deutschsprachigen Welt sehr verbunden. Ich liebe deutschsprachige Autoren. Mein Favorit ist Heinrich Böll, der wunderbare Frauenfiguren porträtiert hat. In Rom war ich mit Ingeborg Bachmann befreundet. Sie war unglaublich sympathisch. Ich mag auch Wien ganz besonders, wo ich mehrere Theaterstücke aufgeführt habe", berichtet Maraini.

Die vielfach ausgezeichnete Autorin, über viele Jahre Lebenspartnerin von Alberto Moravia, die für Romane wie "Zeit des Unbehagens" und "Die stumme Herzogin", den Erzählband "Buio" (etwa: Dunkel), sowie den Briefroman "Liebe Flavia" bekannt ist, zieht sich gern in die karge Abruzzen-Bergortschaft Pescasseroli zurück, wenn sie für ihre Arbeit Ruhe braucht. "Dort gibt es keine Zerstreuung, nur Natur. Ich bin ganz auf die Arbeit konzentriert. Schreiben ist eine Leidenschaft, es ist aber auch eine sehr anstrengende Tätigkeit. Erst heute merke ich wirklich, welche große physische Energie für das Schreiben notwendig ist", meint sie.

Das Entstehen der Figuren ihrer Romane geschieht auf ganz unterschiedliche Weise. "Immer schon klopfen die Figuren an meine Türe. Ich kann nicht erklären, wie das passiert. Der Lehrer Sapienza ist mehrmals zu mir gekommen mit seinen Beklemmungen und Nöten, und ich habe ihn aufgenommen".

(Das Gespräch führte Micaela Taroni/APA)