Gefeierter Weltautor, unbequemer Systemkritiker: Reiner Kunze zählt zu den wichtigsten Dichtern unserer Zeit, seine Vita ist eng mit der deutsch-deutschen Geschichte verquickt. Am Donnerstag kommt er zu Lesung und Podiumsgespräch nach Graz.

Herr Kunze, Sie schmissen mit Mitte 20 die Aussicht auf eine Karriere im DDR-Wissenschaftsapparat hin und wurden Hilfsschlosser. Wie oft haben Sie das bereut?
REINER KUNZE: Keinmal. Aber ich habe damals lange Zeit darunter gelitten nicht mehr unterrichten zu dürfen.

Warum hat Ihnen besonders das Unterrichten so viel bedeutet?
KUNZE: Junge Menschen haben oft noch das absolute Gehör für Ehrlichkeit. Man kann ihnen nichts vormachen. Sie zwingen einen, zu Ende zu denken. Das verbindet und verbündet. Es ist eine Bündnis unabhängig von Alter, Zeit und Ideologie.

Sie konnten 1977 in den Westen ausreisen. Als Künstler politisch zu sein, kann aber auch in demokratischen Verhältnissen nicht immer einfach gewesen sein.
KUNZE: Nach unserer Ankunft in der Bundesrepublik sagte ich in einem Fernsehinterview, von dort, woher wir kamen, sei kein neuer Anfang für die Menschheit zu erwarten. Hätte ich gewusst, welche Folgen diese Äußerung haben wurde, hätte ich sie auch getan. Aber ich wusste es nicht. Nicht alle meiner westlichen Kolleginnen und Kollegen begannen sich zu distanzieren, aber es waren auch nicht wenige. Diejenigen, die sich distanzierten, haben jedoch nicht verhindern können, dass die Jahre in der Bundesrepublik die schöpferischsten, die weltgebenden und die glücklichsten Jahre unseres Lebens geworden sind. Die letzte telefonische Morddrohung, die erstmals auch meine Frau einbezog, erhielt ich am 9. Dezember 1990.

Man hört oft, es würde nach wie vor viel gelesen. Dennoch stellt sich die Frage: Ist die Literatur gleichförmiger als früher?
KUNZE: Um diese Frage beantworten zu können, bin ich nicht belesen genug, denn ich schaffe es nicht einmal, die meisten der Bücher zu lesen, die ich gern lesen würde, ganz zu schweigen von den Büchern und Manuskripten, die mir zugeschickt werden.

Von Ihnen stammt sinngemäß das Diktum: Die Bücher suchen sich ihr Publikum. Stimmt das noch, wenn es erwiesenermaßen immer schwieriger wird, Lyrik zu veröffentlichen?
KUNZE: Für die Bücher, die gedruckt werden, gilt das noch immer, und es hat noch nie für jedes Buch gegolten.

Als widerständiger Autor machte man es Ihnen in der DDR schwer zu publizieren. Wie schwierig ist es heute, Lyrik zu veröffentlichen?
KUNZE: Es werden unzählige Texte geschrieben, die die formalen Kriterien eines Gedichts erfüllen, und es gibt wirkliche Gedichte. Diese haben noch immer eine Chance, aber sie ist selten. Nur wenige Menschen brauchen zum Leben das Gedicht, und ein Verlag, der es sich leisten kann und bereit ist, zugunsten dieser wenigen ein Buch allein wegen seines literarischen Wertes zu verlegen, gehört zu den Solitären.

Ihre Werke sind unter anderem gefragter Schulstoff. Was bringt junge Menschen zum Lesen?
KUNZE: Die Erfahrung, dass ein Buch bezaubern kann.

Warum sind junge Leser für Lyrik besonders empfänglich?
KUNZE: Auf einem Jahrzehnte zurückliegenden Waldspaziergang kamen wir, meine Frau, unsere Tochter und ich, an eine Lichtung mit einer über und über blühenden Löwenzahnwiese. Die Tochter, sechs Jahre alt, klatschte in die Hände und rief: „Ach, alles Briefkästen!“ Diese Art Denken ist das Uröhr, durch das sich alle Poesie in die Welt einfädelt. Aber dieses Denken ist in Gefahr, unter einer Dauerflut von fertigen Bildern zu atrophieren.

Es gibt von Ihnen wunderbare Bücher für junge Menschen. Unterscheidet sich das Schreiben für Kinder und Jugendliche vom Schreiben für Erwachsene?
KUNZE: Neben dem Übersetzen von Gedichten gehört für mich das Schreiben für Kinder zum Schwierigsten, aber auch zum beglückendsten in meinem Beruf. Für Kinder zu schreiben heißt, sei auf die Tragik des Lebens vorzubereiten, ohne sie traurig zu machen. Anders gesagt: Für Kinder zu schreiben heißt zu beglücken, ohne falsches Bewusstsein zu schaffen.

Woran erkennen Sie, dass Ihnen Ihr Schreiben gelingt?
KUNZE: Ich kann nur erkennen – mich aber auch dabei noch irren –, dass ein Text abgeschlossen ist, und das ist dann der Fall, wenn ich meine, kein Wort mehr hinzufügen und keines mehr weglassen zu dürfen.

Sie sind bekannt dafür in sehr intensiven Kontakt zu Ihren Lesern zu treten. Wie sorgt man dafür, dass bei Lesungen der Funke überspringt?
KUNZE: Letztlich können dafür nur die Texte sorgen. Der Rest ist Erfahrung und Risiko, an dem auch das Publikum teilhat. Ein Lyrikprogramm von 60 Minuten zusammenzustellen, kann Tage in Anspruch nehmen. Ich habe mich einmal ausführlicher mit den Kurzmessen Mozarts beschäftigt. Mozart war ein Meister im Setzen von Kontrasten, Ruhephasen und Momenten höchster Anforderung. Auch die Aufeinanderfolge von Gedichten muss thematische Bögen haben, und ihr muss eine Logik zugrunde liegen.

Auf Ihr Buch „Die wunderbaren Jahre“ wird heute mit einer gewissen Nostalgie zurückgeblickt. Stört Sie das? In dem Buch steckt doch auch viel Schmerz?
KUNZE: Der Blick auf ein Buch hängt unter anderem davon ab, inwiefern die Seele des Betrachters auf das Buch vorbereitet ist. Das muss der Autor aushalten.

Sie sind Künstler und Zeitzeuge. Empfinden Sie dieses Zeitzeugendasein manchmal als Korsett?
KUNZE: Mit meiner Biographie zu leben, empfinde ich nicht als Korsett.

Als dissidenter Autor, nicht zuletzt als Opfer der Stasi, haben Sie erlebt, wie Politik auch das Private, die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflusst. Stört Sie manchmal die heutige Gleichgültigkeit gegenüber der Politik?
KUNZE: Wir haben dieser Gleichgültigkeit unsere Stiftung entgegengesetzt. In den Tagebüchern von Albert Camus heißt es: „Schönheit, neben der Freiheit meine größte Sorge.“ Die Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung gründet sich auf diese Doppelsorge.