Er ist Vater und war bis gerade eben noch Sohn. Aber die Urne mit der Asche der Mutter ist in der Post verloren gegangen und die Fundamente, auf denen seine Kindheit errichtet war, stellen sich sehr schnell als brüchig heraus. "Bei Sturm am Meer", der erste Roman des Historikers Philipp Blom, ist eine fein sortierte Studie über die unentrinnbare Verflechtung der Generationen.
Mit kulturhistorischen Büchern wie "Der taumelnde Kontinent", in denen Blom facettenreich und erzählfreudig den Weg Europas von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg nachzeichnet, hat sich der gebürtig deutsche, heute in Wien lebende Historiker zu Ruhm geschrieben und sich als Stimme im aktuellen politischen und kulturellen Diskurs etabliert. Nun legt er einen Roman vor. Erzählt das, was der Historiker sonst weglässt: Wie fühlt es sich an, mit der Spiderman-Figur des Sohnes in der Tasche über eine mögliche Trennung von dessen Mutter zu sinnieren? Was denkt einer, der soeben erfahren hat, dass seine Familiengeschichte auf einer Lebenslüge basiert?
Souverän erzählt
Sein Protagonist, Benedict, kommt ins Taumeln, so wie der Kontinent, als er gleichzeitig mit der Vergangenheit seiner Eltern auch seine Gegenwart, sein eigenes Sein und Denken entlarvt. Taumelt, bis er sich auf den Straßen Amsterdams kräftig den Kopf anschlägt. Für seinen kleinen Sohn schreibt er die Ereignisse auf, die ihn nach dem Tod seiner Mutter eingeholt haben. Dem langsamen Krebstod, dem er Stunde um Stunde beiwohnte. Dann blendet die Erzählung auf und zurück, weg vom Brief, zurück ins Auktoriale und erzählt vom Dahinsiechen der Großmutter, von Abhängigkeit und Abstoßung seiner Mutter mit ihrer eigenen, von der hart erkämpften Emanzipation des jeweiligen Kindes und dem späteren Resignieren vor dem unerschütterlichen familiären Band.
Feinsäuberlich verknüpft Blom die verschiedenen Fäden der Familiengeschichte in einem einzigen Zeitfenster von wenigen Tagen, setzt dort Anker und rudert in der Zeit nach vor und zurück. Sein Historikertum schadet dabei nicht, gibt beiläufig Einblicke in das schwierige Verhältnis von Holland und Norddeutschland nach dem Krieg, in die linken Bewegungen der Hansestadt, wo intellektuelle nächtliche Höhenflüge einer aggressiven Entladung mitunter gefährlich nahe kamen, erzählt vom Staub der Geschichte, der auf Wien wie eine Decke liegt, als sein Protagonist hierher zieht und der die Mühlen seines Schaffensdrangs schließlich zum Stillstand bringt.
Dass Philipp Blom eine Erzählnatur ist, wusste man bereits aus seinen weit ausholenden und dennoch flüssig zu lesenden Sachbüchern. Für seinen ersten Roman hätte man sich daher vielleicht ein Epos erhofft, ein vielgliedriges, historisch bestens verankertes Panoptikum. Stattdessen hat er sich viel weniger vorgenommen, kommt mit vier oder fünf zentralen Figuren aus, bleibt im Kleinen und Kleinsten, erzählt lieber vom allabendlichen Balgen mit dem jauchzenden Sohn und vom letzten Aufstöhnen im Körper der sterbenden Mutter. "Bei Sturm am Meer" ist eine schöne Lektüre. Aber es bleibt abzuwarten, ob es für den literarischen Debütanten Blom nicht erst einmal eine Fingerübung gewesen sein wird.