Herr Caeyers, könnten Sie erklären, warum uns Beethovens Musik nach 200 Jahren immer noch so direkt anspricht?
JAN CAEYERS: Meiner Meinung nach hat das damit zu tun, dass die Musik Beethovens zwei Parameter miteinander verbindet, die einander normalerweise ausschließen. Also das ist Musik, die auf der einen Seite viel Emotion in sich hat, aber egal, wie extrem diese Emotionen auch sind – die musikalische Konstruktion bleibt intakt. Die Kompositionen sind hochrangige intellektuelle Leistungen, aber sie klingen nicht intellektuell. Man kann ein Stück Beethoven stundenlang analysieren, da ist fast jeder Ton miteinander verbunden, aber diese Konstruktion zerstört das Emotionale überhaupt nicht. Die Klaviersonate „Appassionata“ ist wahnsinnig schöne Musik, auch wenn man ihre Konstruktion nicht begreift. Diese Kombination ist einzigartig.
Was hat Sie während der Arbeit an Ihrer Beethoven-Biografie am meisten überrascht?
Mehrere Dinge: Das Auffälligste ist das Talent von Beethoven. Wir können uns heute kaum vorstellen, wozu er in der Lage war. Er hatte eine irrsinnig große Fantasie. Und das Vermögen, diese Fantasie in eine emotional und intellektuelle hochrangige Konstruktion zu übertragen. Ehrlich gesagt habe ich mich während der Arbeit am Buch manchmal geschämt, dass ich es wage, über diesen außergewöhnlichen Menschen etwas zu sagen. Er befindet auf einer Ebene, dass es für Normalsterbliche kaum zu fassen ist, wozu er in der Lage war und wie groß sein Talent war.
Und die anderen Punkte?
Sein Wille, Außergewöhnliches zu leisten, war enorm. Er hatte einen ungeheuren Trieb, das Beste aus sich herauszuholen. Jeder kann im Leben versuchen, Außergewöhnliches zu leisten, aber bei Beethoven ist das ins Extrem getrieben. Er hat in einer Übergangszeit gelebt, als es möglich schien, dass jedes Individuum etwas aus sich machen kann. Das gab es davor, im sozialen Gefüge des 18. Jahrhundert noch nicht. Es gibt einige Gemeinsamkeiten mit Napoleon. Sagen wir so: Beethoven hat etwas Napoleonisches und Napoleon hat etwas Beethovianisches. Es sind beides Leute aus einfacher Herkunft, die bewiesen haben, dass jeder Mensch in der Lage ist, Großes zu leisten.
Sie schreiben, dass es davor für einen Musiker undenkbar gewesen wäre, seine Werke immer wieder neu zu bearbeiten, sie zu verbessern. Bei Beethoven wird Kunst zu etwas sehr Individuellem, sie erhält Bekenntnischarakter. Beethoven stünde also für einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Kunstschaffenden und Kunstwerk.
So ist es. Paradigmenwechsel ist das richtige Wort. Nehmen wir das zweite Klavierkonzert, von dem er vier Fassungen gemacht hat. Vielleicht hat er so hart daran gearbeitet, weil er unbewusst gespürt hat, dass diese Musik auch 200 Jahre später noch gespielt wird.
Es kursieren viele Klischees zu Beethoven, welche ärgern Sie?
Ich versuche, mich so wenig wie möglich zu ärgern, aber mich stört der Mythos von Beethoven als einem Leidenden, einen immer streng schauenden, misanthropischen und paranoiden Menschen. Einem im Umgang unangenehmen Menschen. Der alte Beethoven war so, aber Beethoven war den weitaus größten Teil seines Lebens ein lustiger, sozialer Mensch, er hatte viele Freunde, steckte voller Humor und war beliebt. Innerhalb seiner Kunst war er fanatisch, aber davon abgesehen war er ein normaler und netter Mensch. Am Ende seines Lebens änderte sich das durch seine Krankheiten. Er wurde 56 Jahre alt, seine Taubheit machte sich mit 30 Jahren bemerkbar und verschlechterte sich allmählich. Erst die letzten fünf Jahre seines Lebens war er taub.
Denken Sie, dass der Geniekult des 19. Jahrhunderts mit seinen Überhöhungen ein bisschen den Blick auf Beethoven verstellt hat?
Nicht nur ein bisschen. Das Bild, das wir von Beethoven haben ist geprägt von der bürgerlichen Ideologie am Ende des 19. Jahrhunderts, wo es um Leistung und Kampf ging, im Gegensatz zum Leben des Adels im 18. Jahrhundert. Und Beethoven diente als Beispiel für diese bürgerliche Ideologie des Kampfes. Das hat das Beethovenbild verzerrt.
Wie politisch ist für Sie die Musik von Beethoven?
Da bin ich sehr zurückhaltend. Bei „Fidelio“ und dem Finale der 9. Symphonie gibt es lose politische Hintergründe. Aber ich finde nicht, dass seine 3. Symphonie, die „Eroica“ banal politisch ist, ich glaube, da steckt mehr dahinter.
Aber als Mensch war er sehr politisch.
Ja, absolut. Und da spielt natürlich der Hintergrund seiner Geburtsstadt Bonn eine Rolle. Die aufklärerische Atmosphäre dort hat ihn in seiner Jugend sehr geprägt. Aber er war natürlich auch ein Pragmatiker, er hat ja mit dem Bruder Napoleons, den König Jérome Bonaparte, über eine Anstellung in Kassel verhandelt. Und der war doch ein sehr mieser Typ.
In den letzten Jahrzehnten kamen die historisch informierte Aufführungspraxis und ihre alten Instrumente auf. Beethovens Musik klang plötzlich ganz anders, weniger schwer und pathetisch. Hat sich dadurch das Verständnis der Musik Beethovens verbessert?
Ich habe in Belgien und Holland die Aufführungspraxis nah verfolgen können, mit Frans Brüggen und Gustav Leonhardt habe ich auch gearbeitet. Ich war begeistert, weil es unsere Vorstellungen von Klang, Artikulation und Interpretation geändert hat. Die jüngeren Orchestermusiker heute sind viel flexibler ausgebildet und das heißt, es ist nicht mehr so radikal entweder – oder. Die alten Instrumente haben eine gewisse Schlichtheit und fordern eine andere Artikulation. Das hat dann ganz automatisch Konsequenzen für das Denken über die Musik im Allgemeinen.
Aber Sie können auch mit den alten Aufnahmen von Klemperer bis Furtwängler etwas anfangen?
Absolut. Furtwängler hatte so eine Flexibilität im Tempo, die sehr authentisch ist. In der Aufführungspraxis gibt es derzeit viele, die sehr mechanisch spielen, während Furtwängler eine Flexibilität hat, von der wir wissen, dass sie zu Beethovens Zeit auch üblich war.
Es gab jetzt durch das Jubiläum sehr viele neue Aufnahmen. Wie finden Sie die?
Viele dieser Aufnahmen tun – so sie originell sind – in Wahrheit wenig zur Sache. Ich möchte keine Namen nennen, aber es gibt unter den Jungen intelligente Leute, die sehr gelobt werden und spektakuläre Aufnahmen machen, wo aber die Tiefe fehlt, wo das Effektvolle zu dominant ist. Ich kenne das Problem aus eigener Erfahrung: man glaubt, eine eigene Interpretation machen zu müssen und dann geht man auf die Suche nach Ideen. Dann wird es manchmal unlogisch. Das Komische ist, dass die interessantesten Interpretationen die sind, die sich auf Wissen, auf das Verstehen der Partitur gründen. Und das braucht für gewöhnlich viel Zeit.
Haben Sie manchmal nicht genug von Beethoven?
Überhaupt nicht. Es ist so eine reiche Welt, dass man das Gefühl hat, dass man immer noch tiefer gehen kann. Für mich war der Lockdown ein Sabbatical, an dem ich jeden Tag Beethoven studiere. Ein Problem ist, dass ich die meiste andere Musik nicht mehr interessant finde. Natürlich gibt es großartige andere Musik, aber auch viel schlechte. Und die kann ich kaum noch hören, weil mich ärgert, dass in ihr so wenig steckt. Das ist ein Nebeneffekt, wenn man viel Beethoven hört.
Die Biografie von Jan Caeyers
Jan Caeyers’ neu aufgelegte Biografie über Ludwig van Beethoven (1770 - 1827) ist ein Glücksfall. Kaum einem anderen ist es gelungen, Leben und Werk des Komponisten so überzeugend in den Zeithorizont zu stellen. Von der Jugendzeit in Bonn, über Reifezeit und Starruhm in Wien bis zum Leiden der letzten Jahre: Caeyers veranschaulicht den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen von Beethovens Vita.
Die musikalischen Analysen kommen ohne Fachchinesisch aus und sind dennoch profund. Die große Stärke von Caeyers liegt aber in der Sachlichkeit. Bei den Streitpunkten der Beethovengelehrten wie etwa der Frage, wer hinter der „Unsterblichen Geliebten“ steckt oder der Beurteilung des kräftezehrenden Prozesses um die Vormundschaft des Beethoven-Neffen Karl, ergreift Caeyers nicht Partei, sondern erwägt das Für und Wider. Allein die Akribie, mit der er Beethovens Verhältnis zu Napoleon aufarbeitet, ist die Lektüre dieses Wälzers wert.
Kein Buch für Einsteiger, sondern für die, die tief in Beethovens Leben und seine Epoche eintauchen möchten.Jan Caeyers, "Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biografie". C. H. Beck, 833 Seiten, 25,70 Euro.