Gegensätzlicher könnten die beiden ersten preisgekrönten Beiträge nicht sein. Da ein anrührender, autobiografischer Text über eine Mutter-Tochter-Beziehung von der 80-jährigen Helga Schubert (Bachmann-Preis, 25.000 Euro). Eine klassisch erzählte Geschichte, „die sich mit feiner Ironie im Raum der Literatur bewegt“ (Jurorin und Laudatorin Insa Wilke). Dort eine düstere, dystopische Geschichte der 30-jährigen Lisa Krusche (Deutschlandfunk-Preis) über eine Frau, die nach einer Katastrophe offenbar alleine auf der Welt ist. Ein „nacherzähltes Computerspiel“, wie Juror Michael Wiederstein meinte. Klaus Kastberger, der die deutsche Autorin eingeladen hatte: „Der Text fragt sich, wohin dieses Zusammenspiel von virtuell und real führen wird.“

Das haben sich wohl auch die Veranstalter der 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur im Corona-Jahr gefragt, als die digitale Abhaltung des Wettbewerbes beschlossen wurde. Dass dieses Zusammenspiel aller Beteiligten sehr gut funktioniert hat, steht außer Frage. Die humorvolle Doppelconference von Christian Ankowitsch und Justiziar Andreas Sourji und das Verlesen von Tweets bereicherte den Ablauf mehr als die „Balkonmuppets“ im ORF-Garten (Eigendefinition von Julya Rabinowich, die mit Heinz Sichrovsky gelegentlich zugeschaltet wurde).

Juryvorsitzender Hubert Winkels wird aus der Jury ausscheiden, im kommenden Jahr aber die "Klagenfurter Rede" halten
Juryvorsitzender Hubert Winkels wird aus der Jury ausscheiden, im kommenden Jahr aber die "Klagenfurter Rede" halten © ORF

Dass die Welt der Bits und Bytes dem literarischen Wort wunderbar Gehör verschaffen kann, ist eines der Erkenntnisse dieser konzentrierten Tage. Ein anderes: Die große Namensgeberin des Wettlesens ist auch fast 50 Jahre nach ihrem Tod präsent. Die Wienerin Laura Freudenthaler, Gewinnerin des 3sat-Preises, erinnerte Klaus Kastberger mit ihrer atmosphärisch verrätselten Geschichte an Ingeborg Bachmann und Marlen Haushofer. Hubert Winkels, der heuer das letzte Mal als Juror teilnahm und nächstes Jahr die „Rede zur Literatur“ bei der Eröffnung halten wird, musste hingegen an David Lynch denken.

„Ganz von den Socken“ war wenig später Klaus Kastberger, als auch der (neben Lisa Krusche) zweite von ihm eingeladene Autor ausgezeichnet wurde. Egon Christian Leitner überzeugte die Jury mit seinem gesellschaftskritischen Text „Immer im Krieg“, der seinen über 1000 Seiten starken „Sozialstaatsroman“ fortsetzt (Kelag-Preis).

Helga Schubert war den ganzen Bewerb über virtuell dabei. Sichtlich zu Tränen gerührt erzählte die Autorin über die „schutzengelmäßige Schicksalswende“, weil sie für den Bewerb nicht wegfahren musste und ihren Mann in der „Worpswede-Landschaft“ von Mecklenburg-Vorpommern pflegen kann. Ihr Text sollte als „Verbeugung vor Ingeborg Bachmann“ und ihrer Erzählung „Das dreißigste Jahr“ ursprünglich „Das achtzigste Jahr“ heißen. Weil sie sich nicht bei der Jury anbiedern wollte, wurde es „Vom Aufstehen“. Aufgestanden ist Schubert selbst oft. Etwa als ihr 1980 die Stasi verbot, am Bachmann-Wettlesen teilzunehmen, zu dem sie Günter Kunert eingeladen hatte. An einer Veranstaltung, bei der „der Anti-Kommunist Reich-Ranicki Jury-Vorsitzender“ sei, dürfe die DDR-Bürgerin nicht teilnehmen. Von 1987 bis 1990 saß sie in der Jury des Bewerbes. Und nun hat sie gewonnen