Der junge Wiener Tonio Schachinger hat mit seinem Schulroman "Echtzeitalter" den Deutschen Buchpreis 2023 gewonnen. Das wurde soeben im Frankfurter Römer bekannt gegeben. Die prestigereiche Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ist mit 25.000 Euro dotiert. Nominiert waren auch Terézia Mora ("Muna oder Die Hälfte des Lebens"), Necati Öziri ("Vatermal"), Anne Rabe ("Die Möglichkeit von Glück"), Sylvie Schenk ("Maman") und Ulrike Sterblich ("Drifter").
196 Romane waren im Rennen
In diesem Jahr waren insgesamt 196 Romane von 113 deutschsprachigen Verlagen im Rennen. Von den teilnehmenden Verlagen stammten 83 aus Deutschland, 20 aus Österreich und zehn der Schweiz. Auf die Longlist hatten es mit Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Thomas Oláh, Teresa Präauer, Kathrin Röggla und Tonio Schachinger sechs Autorinnen und Autoren aus Österreich geschafft.
Der Deutsche Buchpreis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche und wird seit 2005 verliehen. Der Preis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der Sieger oder die Siegerin erhält 25.000 Euro, die übrigen Autoren der Shortlist jeweils 2500 Euro. Der Deutsche Buchpreis wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels traditionell einen Tag vor Eröffnung der Frankfurter Buchmesse vergeben. Im vergangenen Jahr ging der Preis an Kim de l'Horizon für den Roman "Blutbuch".
Schüler Gerber im "Echtzeitalter"
Generationen von jungen Lesern in Österreich griffen, wenn sie ihre eigenen Schulerfahrungen mit denen aus einem Roman vergleichen wollten oder mussten, zu Friedrich Torbergs "Der Schüler Gerber" aus dem Jahr 1930. Künftig wird wohl stattdessen Tonio Schachingers "Echtzeitalter" gelesen. Wenn dann überhaupt noch zu Büchern gegriffen wird. Denn auch Protagonist Till liest nur, was er muss, und verbringt seine Zeit lieber mit dem Spielen des Computerspiels "Age of Empires 2".
Till Kokorda ist der neue Kurt Gerber und sein Klassenvorstand, der Deutschprofessor Dolinar, der neue "Gott Kupfer": gefürchtet, ungerecht, fordernd, auf Pünktlichkeit und Disziplin höchsten Wert legend, seine Schüler immer wieder beschimpfend und mit umfangreichen Strafen ihre karge Freizeit minimierend. Aber das "Echtzeitalter", für das der 31-jährige Tonio Schachinger heute mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, ist nicht nur ein Kräftemessen zwischen einer Autoritätsperson, die ihre Macht unverschämt ausspielt, und einem Schüler, der darunter leidet, sondern auch eine Einführung in die Welt der Gamingprofis und – natürlich – eine Coming-of-Age-Geschichte, vor allem aber ist es ein Schulroman.
So wie die Architektur von Hogwarts die Welt von Harry Potter bestimmte, so beeinflusst das Marianum das Leben von Till Kokorda und seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Der Clou: Das Marianum gibt es wirklich. Jedem Wiener Leser ist sofort klar, dass hier detailreich das Theresianum beschrieben wird – inmitten eines weitläufigen Parks und umgeben von hohen Mauern, die nur auf der Höhe des Theaters Akzent einigermaßen gefahrlos überwunden werden können. Das Spiel mit der Realität, das sich auch in zahllosen Sticheleien und Anspielungen auf die Wiener Gesellschaft, ihre Vorurteile und Standesdünkel ausdrückt, hat seinen Reiz für jene, die sich selbst in dieser Realität bewegen – und wirkt wohl verschroben und exotisch für das deutsche Lesepublikum, das hier Reste der guten alten k. u. k. Zeit entdecken mag.
Autor ist ehemaliger Theresianum-Schüler
Deutlich spannender als das, was in der Schule passiert und überaus konventionell erzählt wird, findet Till – und mit ihm der Rezensent – das, was sich am PC des jungen Mannes, dessen strenger und ungerechter Vater kürzlich an Krebs gestorben ist, abspielt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern zu dem Thema bleiben die zahllosen Stunden, die der Teenager im Online-Strategiespiel verbringt, statt zu schlafen, frische Luft zu tanken, sich zu bewegen oder sonst die Welt zu entdecken, nicht als abstrakte Anklage stehen, sondern erhalten Lebendigkeit und Faszination. Man darf annehmen, dass der ehemalige Theresianum-Schüler Schachinger auch hier eigene Erfahrungen einbringen kann – das muss aber auch nicht sein, immerhin hatte der leidlich gute Hobbykicker bei seinem gerühmten und ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert gewesenen Debüt "Nicht wie ihr" 2019 einen jungen Profifußballer ins Zentrum gestellt und Einfühlungsvermögen in die ihm fremde Welt bewiesen.
Während Till als jüngster Top-10-Spieler in Internetforen weltweit verehrt wird und zu Gaming-Wettbewerben nach Deutschland und China reist, schafft es seine Freundin Feli mit literarischen Versuchen zu Lokalruhm. Über ihre pointierte Auseinandersetzung mit der nicht nur ruhmreichen Vergangenheit des Marianums schafft es auch der Autor selbst, sein Schulthema ins Politische auszuweiten. Kanzler Kurz, Türkis-Blau und die Ibiza-Affäre finden als Kulisse Eingang in das Geschehen, das am Ende durch Corona auch direkt ins Schulleben eingreift. Ausgerechnet im Abschlussjahr sitzt Till mit seiner Freundin in der vom Vater mit 18 Jahren geerbten Wohnung statt im Klassenzimmer, kann schon am frühen Morgen am PC in die Welt von "Age of Empires 2" eintauchen und es sich leisten, bei der Deutsch-Matura ein leeres Blatt abzugeben, da seine Jahresnote ihm bereits das Bestehen der Reifeprüfung sichert.