Karl Wittgenstein im Jahr 1908
Karl Wittgenstein im Jahr 1908 © Schmutzer, Ferdinand / ÖNB-Bilda

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall mächtiger Familien ist so oft erzählt worden, dass daraus ein Klischee geworden ist. Doch wo, wenn nicht am Beispiel der Familie Wittgenstein, böte sich die Darstellung eines rasanten Steigflugs, gefolgt von einem viel langsameren, aber quälenden Absturzes besser an?

Es ist ein Märchen, das zur Gründerzeit ja öfter als nur einmal Wirklichkeit wurde. Zuerst war da der tadellose, sparsame Familiengründer Hermann Christian Wittgenstein (1802–1878), ein zum Protestantismus konvertierter Jude aus dem Norden Hessens, ein Großbürger, der es dank hoher Arbeitsmoral mit Immobiliengeschäften zu beträchtlichem Reichtum brachte. Und da ist sein sechstes Kind Karl, der zum wahren Patriarchen der Familie aufsteigen sollte. Ein kantiger Charakter, der sich früh von seinem Vater emanzipierte, mit 18 nach Amerika ging, um sein Glück zu suchen, und sich dort mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Dass er in der kurzen, zweijährigen Phase auch mit der Härte des modernen amerikanischen Geschäfts in Berührung kam, wird wohl nicht zu seinem Nachteil gewesen sein.

Karl Wittgenstein mischte nach seiner Rückkehr das lange so rückständige, verschlafene Österreich mächtig auf. Die Umstände waren günstig. Trotz Börsencrash 1873 lag für gewiefte, mitunter skrupellose Geschäftsleute wie Wittgenstein das Geld auf der Straße. Karl stieg innerhalb von wenigen Jahren zum Stahlbaron der Monarchie auf. Er inszenierte sich als Self-Made-Man, aber nutzte natürlich die weitverzweigten Verbindungen des schon rein zahlenmäßig imposanten Wittgenstein-Clans.

Der Magnat Karl Wittgenstein, Multimillionär und Patriarch einer kunstsinnigen, umtriebigen, hinter dem ökonomischen Erfolg aber enorm fragilen Familie, steht im Zentrum des Buchs von Peter Eigner. Der in Wien lehrende Wirtschaftshistoriker zeichnet den beschriebenen Weg nach, verdeutlicht die eminente Rolle, die die Familie in der späten Donaumonarchie spielte, und widmet sich genauso akribisch dem allmählichen Abstieg, der mit dem Tod Karls 1913 seinen Anfang nahm und der von den Weltläufen bestimmt war.

1938 waren die Wittgensteins plötzlich „Juden“ – eine seit Jahrzehnten akkulturierte Familie vor lauter Protestanten und Katholiken. Der Kampf ums Eigentum und die persönliche Freiheit, den die Familie mit den Nazis ausfocht, war, wie Eigner detailliert schildert, eine Groteske, an der auch der Familienzusammenhalt zerbrach.

Gefährdet war dieses Leben von schwerreichen, gebildeten Wiener Großbürgern aber immer schon gewesen. Nicht nur die beiden berühmtesten Kinder von Karl, der Philosoph Ludwig und der Pianist Paul, waren psychisch labil und führten ein Leben zwischen Askese, Aufopferung und Ausschweifung.

Frauengestalten wie Margaret, Hermine und Karls Schwester Clara Wittgenstein nehmen in Eigners Buch ebenso viel Raum ein. Die Biografie der Familie lebt von einem Faktenreichtum, der den Leser zwar mitunter ermüdet, der aber die Grundlage für eine Darstellung ist, die sich vorschnellen Urteilen und Interpretationen entzieht. Eigner wägt Argumente gegeneinander ab, verzichtet komplett auf reißerische Verkürzungen und versucht in höchster Redlichkeit und Sachverstand die Dinge so darzustellen, wie sie objektiv wohl gewesen sein mögen.

Peter Eigner. Die Wittgensteins. Geschichte einer unglaublich reichen Familie.
Molden-Verlag. 336 Seiten, 40 Euro.