Eigentlich geht es um Gerechtigkeit und Toleranz, wenn man von einer woken, einer wachen Person spricht. Was ist falsch daran?
SUSAN NEIMAN: Es gibt den schönen Spruch: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Und das gilt speziell bei den Woken. Woke zu sein speist sich aus Gefühlen, die alle als linksliberal gelten: Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung, die Verbrechen der Vergangenheit wieder gut machen. Natürlich bin ich dafür, das hängt allein schon damit zusammen, wo ich aufgewachsen bin.

Wo?
Im Süden der USA, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung. Meine Mutter wurde vom Ku-Klux-Klan bedroht, weil sie sich engagierte. Unsere Synagoge wurde zerbombt, weil der Rabbiner eng mit Martin Luther King zusammenarbeitete. Aus einem linksliberalen Milieu kommend stehe ich definitiv links.

Aber nicht woke: Laufen Sie aber nicht auch Gefahr, mit ihrem Buch just den Rechten in die Hände zu spielen, die immer schon gegen Gendersternchen waren?
Davor haben mich Freunde schon vor Veröffentlichung des Buchs gewarnt. Meine Initialzündung für das Buch waren aber gerade viele private Gespräche, in denen jeder erklärte, wie schrecklich er woke Erscheinungen empfindet. Zugeben wollte das niemand. Aber viele schließen daraus, dass sie nicht mehr links sind, oder sich bestenfalls politisch heimatlos fühlen, weil nun links mit woke gleichgesetzt wurde. Dagegen wollte ich schreiben.

Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling erntete einen Shitstorm, als sie sich darüber mokierte, dass in einem Artikel über eine Frau das Wort Frau nicht vorkam, sondern die Rede war von „Menschen, die menstruieren“ .
Eine deutsche Verlegerin erzählte mir kürzlich, dass sie ein Buch lancieren wollte mit dem Spruch: Dieses Buch wird Ihnen die Augen öffnen. Auch sie erntete einen enormen Shitstorm, weil durch diesen Satz Blinde gekränkt werden könnten.

Ist es tatsächlich ein Fortschritt, wenn zwar niemand mehr beispielsweise Zigeunersauce sagt, aber der Stundenlohn für Pflegerinnen oder Pfleger nach wie vor ein Elend ist?
Es ist ja viel billiger, nicht mehr Zigeunerschnitzel zu sagen oder einen Beirat zu diversifizieren, als grundsätzliche Reformen durchzuführen, die wir alle brauchen würden. Ich denke, dass eine Ursache im Jahr 1991 zu finden ist. Wir haben den Kollaps des real existierenden Sozialismus nicht aufgearbeitet und nicht gefragt: Wo haben wir geirrt, wie soll es weitergehen? Ein internationales Projekt, das Gerechtigkeit für alle bringt, wurde nicht angestoßen. Vielleicht brauchte der Mensch aber auch eine Pause.

Daher hat man sich bewusst ins Klein-Klein begeben? Ins Gendersternchen, ins Diverse?
Ich denke, so ist es.

Wurde damit die einfachere Ausfahrt genommen?
Genau. Historisch wünschte ich mir, dass man zu dem Moment zurückgehen könnte, als die Mauer fiel und man sich danach fragen hätte sollen: Wollen wir wirklich diesen radikalen Neoliberalismus. Wollen wir diesen aufkeimenden Nationalismus?

Geriet da die Linke ins Abseits?
Ja, denn der einzige Universalismus, auf den man sich einigen wollte, war der unbändige Wunsch nach Konsumgütern. Jeder wollte mehr Stoff.

Ist Woke das neue Autoritäre?
Mir geht es um etwas Tieferes, und ich wollte auch nicht noch ein Buch über Cancel Culture schreiben: Ich bin für Redefreiheit, über Grenzen kann man immer streiten. Mir ging es in meinem Buch um tiefere philosophische Fragen, die diese woke Emotionen unterminieren und die Gleichung von links und woke doch sehr infrage stellen.

Es erstaunt, dass sich ein so diskriminierendes Stereotyp wie jenes vom alten weißen Mann hält. Wie kommt ein kultivierter Humanist dazu, sich so nennen lassen zu müssen?
Dieser Vorwurf kommt aber nicht nur von den Jüngsten. Das wird heute eher von den Gate-Keepern aufgenommen und ausgespielt: Von Menschen zwischen 50 und 60, die Angst haben, den Anschluss an die Jungen zu verlieren. Interessant finde ich auch, dass es zwar Sexism und Rassism gibt, aber kein deutsches Wort für Ageism. Mit etwas Glück werden aber alle älter. Deshalb kommt mir die Ablehnung von Menschen oder Meinungen eines gewissen Alters sehr selbstzerstörerisch vor.

Bei den alten weißen Männern sind ja letztlich auch die alten weißen Frauen mitgemeint, oder?
Klar. Das sagt man zwar nicht so laut, aber es ist so.

Haben Sie eine Idee, wann es passiert ist, dass Wissen und Erfahrung nichts mehr wert waren?
Mir fällt dazu das Jahr 2016 ein.

Als Trump die US-Wahl gewann?
Genau. Davor gab es einen internationalen Glücksmoment mit Obama. "Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er beugt sich der Gerechtigkeit zu": Barack Obama nahm immer wieder dieses Zitat von Martin Luther King auf. Und dann kam mit 2016 Donald Trump. Für viele ein Schock. Einen Tag nach der Wahl habe ich in Berlin meine deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Ich verstehe, dass junge Menschen 2016 besonders verzweifelt waren, denn sie dachten, dass es immer ein Stück besser wird. Und dann dieser Rückschritt. Diesbezüglich verstehe ich das Stigma des alten weißen Mannes zumindest ein bisschen.

Ist Wokeness eine Generationenfrage?
Nein, das denke ich nicht. Ich kenne eine Menge Leute in ihren 20ern und 30ern, die auch ihre Zweifel haben, aber oft noch nicht mutig genug sind um zu sagen: Das wollen wir nicht! Und dann ärgere ich mich, wie viele Leute um die 60 in Verlagen und im Kulturbetrieb sitzen und alles schlucken. Im kommenden Jahr gibt’s in Deutschland das Kant-Jahr, aber momentan gibt es fast nur ein Thema in der Kant-Forschung: Wie rassistisch war Immanuel Kant? Dabei bräuchte es ein: Ja, der frühe Kant hat ein paar schreckliche rassistische Bemerkungen gemacht. Aber: Kennen Sie den Text, in dem er den Kolonialismus aufs Schärfste kritisiert?

Sind wir verunsichert, weil die Größen unserer Kulturgeschichte vom Sockel gestoßen werden?
Ja, denn wenn wir sie alle vom Sockel stoßen, haben wir nichts mehr, auf das wir bauen können. Denn es waren die Prinzipien der Aufklärung, die uns weitergebracht haben, sowohl bei den Frauenrechten als auch bei der Entkolonialisierung. In Deutschland, wo es manchmal eine besondere Grobheit gibt, passiert es mir immer wieder, dass ich zu einer Diskussionssendung eingeladen werde, weil ich eine Frau bin und weil ich eine jüdische Frau bin. Wenn ich das schon merke, lehne ich meist ab, denn verdammt: Ich habe neun Bücher geschrieben, die in 15 Sprachen übersetzt wurden: Ladet mich deshalb ein! Oder gar nicht.

Welche wesentliche Frage sollten wir uns stellen?
Die Welt steht auf der Kippe. Ich sehe zwei große Gefahren. Die eine kennen wir, das ist die Klimakrise. Warum verzetteln wir uns in nationalen Fragen, wenn diese Gefahr nur global gelöst werden kann? Die zweite große Gefahr ist der drohende Faschismus: Dessen Anhänger wissen, was sie wollen. Warum verzetteln wir uns in Klein-Klein und der Frage, was denn nun links ist, statt gemeinsam den Faschismus aufzuhalten.