Für Grazer Verhältnisse hat Ekaterina Degot schön öfters klaren Blick bewiesen. Dass sie am Donnerstag das dicht besetzte Uhrturm-Plateau auf dem Schlossberg zum Schauplatz der herbst-Eröffnung machte, zeigt einmal mehr Scharfsinn: Denn nicht das Grazer Wahrzeichen, sondern ein obskures Standbild direkt dahinter diente der herbst-Intendantin als Schaustück und Denkanstoß ihrer Rede: Das „Denkmal zu Ehren des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 27“ des Grazer Bildhauers Wilhelm Gösser (1881-1966), gab ihr Anlass zur Reflexion über eine Kultur, die nur zu bereitwillig den jeweiligen Machthabern dient: Gösser porträtierte Hitler und Mussolini ebenso wie später Stalin.
Als Opportunist lebte er jahrzehntelang komfortabel von seiner Kunst, „ohne sich selbst klar zu positionieren“, so Degot, die an seinem Beispiel ein flammendes Plädoyer für „die dissidente Stimme der Kunst, die Stimme der Ungehorsamen, der Andersartigen“ hielt. Gerade ihr habe der herbst stets Gehör verschafft.
In diesem Sinne will Degot auch den aktuellen Slogan „Humans and Demons“ verstanden wissen; in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit Grauzonen „des Kompromisses, der Kollaboration, des Verrats, des Pakts mit der Macht oder mit dem Teufel“. Umso dringender sei es, „auf Leute zu hören, die in Lagern und Diktaturen gelebt haben, die Stimmen derer zu hören, die es noch immer tun“ – in Russland, Belarus, Afghanistan, Nordkorea oder im Iran etwa.
Kronzeugen von Degots Argumentation sind zwei prominente Autoren: Primo Levi, der aus der Erfahrung des Konzentrationslagers die Mechanismen des Totalitären beschrieb, und Milan Kundera, der im Gegensatzpaar des „Engelhaften“ und „Dämonischen“ hier idealistische Schablonen, dort unverstellten Zynismus sah. Während die Kultur der freien Welt sich manchmal in „nichtssagenden progressiven Klischees“ ergehe, so Degot, agiere die Kunst in Diktaturen wie Russland oft nur noch pragmatisch und entpolitisiert. Umso mehr komme es nun darauf an, der Falle sowohl der „engelhaften Didaktik“ der einen Seite als auch der „dämonischen Wurschtigkeit“ der anderen zu entkommen – und für die dissidente Stimme der Kunst zu kämpfen.
Da ist es konsequent, dass Degot im Zuge des herbst-Eröffnungsparcours durch die Stadt kurz darauf die Bühne am Mariahilferplatz zwei Klimaaktivistinnen überließ. Deren Appelle wurden also gehört – und von vielen akklamiert. Nicht ganz so konsequent: Für die öffentliche Diskussion darüber, etwa mit der anwesenden Politikerriege, gab es keine Zeit.
Kein Platz fürs Gespräch, umso aber mehr für Kunst: am Schlossberg zeigte Lulu Obermayers Performance „Agoraphobia“ den verletzten Mann hinter den Schablonen klassischer Opernhelden, am Mariahilferplatz nutzte Performer Michael Portnoy die Fiktion einer neuen Grazer „Verhaltensdirektion“ für ein Regelwerk, das auf Gassen Platz zum Denken schafft und den Stadtpark zum Sexualbegegnungszentrum umwidmet. Gilt das eigentlich noch als dissidente Fantasie?
Ute Baumhackl