Wir wissen, was schrecklich ist, aber oft nicht, was gut ist – soll es gut sein für den Planeten im nächsten Jahrhundert oder gut für den Urlaub unserer Kinder heute? Gut für den gerechten Sieg über den Aggressor oder für den sofortigen Friedensvertrag mit dem Aggressor? Für die offene Ablehnung der Diktatur oder für die Sicherheit unserer Familie, die noch unter dieser Diktatur lebt?
Diese schwierigen Entscheidungen können nicht warten, müssen inmitten des Kriegs, der Krise oder zunehmender politischer Repression getroffen werden. Es scheint, das „Böse“ ist heute universell, türmt sich von allen Seiten auf, während das „Gute“ relativ ist, in die Privatsphäre verschoben wurde, wo es auf einer sehr persönlichen Idee von dem basiert, was – unter den gegebenen Umständen – richtig ist.
Viele Entscheidungen werden vom Überlebensinstinkt diktiert werden, und sie könnten uns in Grauzonen bannen – Zonen des Kompromisses, der Kollaboration, des Verrats, des Pakts mit der Macht oder mit dem Teufel höchstpersönlich (so wie der eines unserer heurigen Charaktere: Dr. Jazz, ein Fan, Sammler und Unterstützer schwarzer Jazzmusik und gleichzeitig ein geflissentlicher Nazi-Offizier).
Primo Levi verstand etwas über Grauzonen, als er im KZ war, wo die Kapos und Sonderkommandos zwischen den Herren und den Häftlingen standen. Er wusste es zu vermeiden, sie zu verurteilen, aber nicht, über dieses Phänomen nachzudenken. Und er verstand, dass die Lektionen des KZs die Menschheit nach ihrer Schließung weiterhin begleiten.
„Auf diese Weise wurde innerhalb der Lager“, schreibt Levi, „die hierarchische Struktur des totalitären Staates, in dem alle Macht von oben her verliehen wird und eine Kontrolle von unten her nahezu ausgeschlossen ist, in kleinerem Maßstab, aber mit vergrößerten Merkmalen reproduziert.“
Und falls wir glauben, dass der totalitäre Staat uns nicht betrifft, fährt er fort: „Der Aufstieg der Privilegierten ist nicht nur in den Konzentrationslagern, sondern in allen menschlichen Lebensverbänden ein beängstigendes, aber unabänderliches Phänomen: sie fehlen nur in den Utopien … Wo es eine von wenigen oder von einem einzelnen ausgeübte Macht über viele gibt, entsteht und vermehrt sich das Privileg, auch gegen den Willen der Macht selbst; aber es ist normal, daß die Macht es toleriert oder fördert.“
So beunruhigend es klingen mag, wenn wir unsere freien Gesellschaften verstehen wollen, ist es Zeit, auf Leute zu hören, die in Lagern und Diktaturen gelebt haben, die Stimmen derer zu hören, die es noch immer tun, derjenigen, die weiterhin in Russland, Belarus, Iran, Afghanistan oder gar Nordkorea leben – wir können uns nicht sicher sein, dass es dort keine unterdrückten Stimmen gibt, Stimmen, die sehr bald verstummen könnten.
Und wir müssen diejenigen wieder lesen, die vor uns mit dieser Erfahrung in ihren Knochen geschrieben haben. Es war nicht immer alles dunkel und tragisch, das Überleben kann genauso amüsant wie abenteuerlich sein.
In seinem Buch vom Lachen und Vergessen, dem ersten, das er im Westen, im Anschluss an seine Flucht aus der Tschechoslowakei nach dem sowjetischen Einmarsch, geschrieben hat, beschreibt der Romancier Milan Kundera das Leben als Koexistenz „engelhafter“ und „dämonischer“ Elemente. Er spricht von verschiedenen Arten des Lachens – Engel und Dämonen lachen unterschiedlich und über unterschiedliche Dinge. Engel und Dämonen sind für ihn nicht Gut und Böse – der Unterschied ist der, dass Engel sich sicher sind, dass die beste aller möglichen Welten einen Sinn hat, während Dämonen dies als absurd erscheint. Sie sehen keinen rationalen Sinn in irgendetwas und haben auch kein Bedürfnis, einen zu suchen.
In seiner Studie "Das Böse" liest der britische Literaturwissenschafter Terry Eagleton Kunderas Gegensatz politisch: Das „Engelhafte“ meint die Art, wie Politiker in ihrer klischeehaften Rhetorik über das Gemeinwohl, Patriotismus, Familie, Werte sprechen. Das „Dämonische“ meint die zynische Art, wie Politiker denken oder einander zuflüstern: Business as usual; wirtschaftliche Interessen; Realpolitik befreit von moralischen Fragen; lass uns einfach reich werden, man kann eh nichts ändern.
Wenn ich Eagletons Gedanken folge, würde ich vielleicht sagen, dass für Kundera, der gerade den Ostblock verlassen hatte, das „Engelhafte“ die leere bürokratische kommunistische Propaganda war, die er sehr gut kannte, und das „Dämonische“ – die leblose Maschine des gierigen Kapitalismus, der er gerade im Exil begegnete.
Kundera schreibt, dass beide Seiten in unserem Leben vorhanden sein sollten, um das Gleichgewicht zu halten. Aber er tut dies, weil er als Schriftsteller, als Intellektueller nach einem Ort suchte, der er ihm die Freiheit geben konnte, sich mit nichts zu identifizieren. Er wollte sich zwischen diesen beiden, dem „Engelhaften“ und dem „Dämonischen“, verstecken. Und es gelang ihm.
Heutzutage haben der ehemalige Osten und der ehemalige Westen allerdings bereits das Schlimmste voneinander gelernt. Der Westen fühlt sich breschnewistisch an mit seiner Bürokratie und seinen „Bullshit Jobs“. Der Osten ist so wirtschaftlich grausam und inhuman, wie er den kapitalistischen Westen früher dargestellt hat. Auch in der Kunst und Kultur haben die beiden die Rollen getauscht. Die zeitgenössische Kultur der „freien Welt“ verkündet gelegentlich, dem „engelhaften“ Weg folgend, nichtssagende progressive Klischees. In Diktaturen wie dem heutigen Russland erfreut sich die Kunst hingegen oft nur des Pragmatischen und Entpolitisierten – des „Dämonischen“, nach Kundera und Eagleton. In beiden Fällen passt sich die Kultur an, unterstützt diejenigen, die die Regeln festlegen, und wechselt auf ihre Seite.
Ich würde Sie jetzt bitten, sich umzudrehen und sich eine Person, die bislang auch zugehört hat, genau anzuschauen. Es ist der Krieger vom 27. Infanterieregiment, einer Habsburger Militäreinheit, die vom 17. Jahrhundert bis zum Jahr 1919 aktiv war und hier 1932 in einem Denkmal verewigt wurde, vom Grazer Bildhauer Wilhelm Gösser, berüchtigt als „Arno Breker Österreichs“. Der Stil der Statue lässt uns erschaudern, auch wenn das Böse der Massenvernichtung, deren Geist sie ist, noch bevorstand. Die von ihr verkündete Ordnung ist patriarchalisch und aggressiv. Von dieser scheinbar menschlichen Figur geht eine Entmenschlichung aus.
Im Kontext von Humans and Demons sollten wir diese Figur jedoch eher als komisch denn als furchterregend betrachten. Jahrzehntelang lebte der Bildhauer Wilhelm Gösser bequem in einer Grauzone und diente jedem, der an der Macht war, ohne sich selbst klar zu positionieren, was ihm den Ruf eines freien Künstlers einbrachte, der nie der Kollaboration bezichtigt wurde. Vor diesem Krypto-Nazisoldaten hatte er Peter Rosegger und Engelbert Dollfuß gebildhauert, im Anschluss – Hitler und Mussolini. Im Frühjahr 1945 meldete er sich freiwillig, um eine ganze Armee von Stalin-Büsten für den Bedarf der Sowjets herzustellen, nur um später mit Kriegsdenkmälern für österreichische Gefallene und Friedenssymbolen weiterzumachen. In den 1960ern und sogar bis in die 1990er wurde seine Kunst in der Steiermark als „kerngesund“ und „regenerativ“ gelobt. Dieses Lob verdankte er seiner „positiven“ Überlebenskraft, seinem Konformismus und seiner Anpassung, seiner Stärke im Gehorsam, im Gegensatz zu ungesundem Zweifel und Reflexion. „Furchtlos und treu“ lautet die Inschrift – Wilhelm Gösser aber war alles andere als das, er war feige und unstet, und ich kann nicht umhin, seine Figur genauso zu betrachten.
So wird der Soldat paradoxerweise menschlicher, zerbrechlicher. Er steht hier, pompös und stramm, aber halb vergessen und machtlos. Seine Bewegungslosigkeit erscheint wie eine Lähmung, und die einfache Tatsache, dass es sich um eine Skulptur handelt, wie Stummheit. Eines Tages könnte er jedoch aufwachen. Die Meister dieser fiktiven Krieger, Künstler wie Gösser, erheben bereits ihre Köpfe – und ihre Hände – in verschiedenen Teilen der Welt, wo die Aggression gegen den Nachbarn langsam zur Grundlage des Nationalstolzes wird.
Beim steirischen herbst haben wir immer die dissidente Stimme der Kunst unterstützt, die Stimme der Ungehorsamen, der Andersartigen, derjenigen, die wie Kundera mit ihren rätselhaft poetischen Geschichten sowohl der Falle der engelhaften Didaktik wie der der dämonischen Wurschtigkeit entkommen. Wenn wir glauben, dass es in unserer kleinen und sicheren freien Welt nicht mehr nötig ist, für solch eine Stimme der Kunst zu kämpfen, liegen wir falsch, oder könnten sehr bald falschliegen.
Ekaterina Degot