Fast zwei Jahrzehnte nach dem Tod von Stieg Larsson sind seine großen Romanhelden Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist wieder zurück. Die schwedische Autorin Karin Smirnoff hat sich der schwierigen wie verlockenden Aufgabe angenommen, die düsteren Geschichten aus dem vermeintlich so friedlichen Schweden weiterzuerzählen. Erstmals hat damit eine Frau die Kontrolle über die "Millennium"-Saga übernommen – und das mit Bravour.
"Verderben" heißt der siebte Teil der Reihe, der an diesem Mittwoch im Heyne-Verlag erscheint. In Schweden ist das Werk bereits Ende 2022 unter dem Titel "Havsörnens skrik" (Der Schrei des Seeadlers) in den Handel gekommen. Es verkaufte sich seitdem über 100.000 Mal im Land.
Damit hat eine Erfolgsreihe doch noch eine Fortsetzung gefunden, die eigentlich schon als abgeschlossen galt: "Vernichtung" von David Lagercrantz hatte 2019 das krachende Finale sein sollen, doch dann erwarb der schwedische Verlag Polaris die Rechte an drei neuen "Millennium"-Büchern – Ende 2021 wurde Smirnoff als nächste Autorin aus dem Hut gezaubert. Eine, die zwar zuvor nie Krimis geschrieben hatte, aber dennoch passte. "Gewalt hat etwas sehr Spannendes an sich. Und Verlockendes", sagte Smirnoff dem schwedischen Rundfunksender SVT.
100 Millionen Mal verkauft
Weltweit haben sich die ersten sechs Teile über die Hackerin Salander, den Enthüllungsjournalisten Blomkvist und ihre bitterbösen Fälle über 100 Millionen Mal verkauft, darunter allein rund zehn Millionen Mal im deutschsprachigen Raum. Larsson erlebte von diesem Megaerfolg nichts: Er war 2004 mit nur 50 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Erst später kam seine blutrünstige Trilogie heraus, hierzulande von 2006 bis 2008 unter den Titeln "Verblendung", "Verdammnis" und "Vergebung". Ein knappes Jahrzehnt später lieferte Lagercrantz mit drei Folgeromanen Nachschub – nun folgt also die 58-jährige Smirnoff, die erst 2018 mit "Jag for ner till bror" ("Mein Bruder") ihr Romandebüt gefeiert hat.
Smirnoff stammt wie Larsson aus dem eher dünn besiedelten Norden von Schweden. Dorthin schickt sie auch die Stockholmer Blomkvist und Salander: Im fiktiven Dorf Gasskas erwartet Blomkvist die Hochzeit seiner Tochter Pernilla, Salander eine bisher unbekannte Nichte mit beeindruckenden Fähigkeiten – und schon bald das pure Böse.
Lisbeth Salander lebt weiter im Roman
In der nordschwedischen Einöde zeigen sich die menschlichen Abgründe in der Folge erneut in roher Gewalt, Folter, Vergewaltigung und Kindesmissbrauch – Smirnoffs Fiktion ist ebenso brutal wie die von Larsson. Zu alten Bekannten wie der Rockergang Svavelsjö gesellen sich neue Grausamkeiten und Charaktere, zuvorderst ein sadistischer Konzernchef mit hitlergleichen Vorstellungen von der Welt und die 13-jährige Svala, mit der Salander schließlich in den Krieg zieht.
Smirnoff schafft es dabei, Larssons Romanhelden in die Realität des Jahres 2023 einzuweben. Die auch im realen Schweden grassierende Bandenkriminalität klingt ebenso an wie der Ukraine-Krieg, auch Klimaaktivistin Greta Thunberg darf im Roman ein wenig twittern.
Und dann ist da noch Lisbeth Salander. Sie ist vermutlich die Figur, in der sich der Welterfolg der Reihe begründet. Smirnoff wagt es, diese Heldin weiterzuentwickeln: Salander ist diesmal nicht nur genial und draufgängerisch, sondern auch nachdenklich und unsicher. Smirnoff stellt ihr die hochbegabte Svala zur Seite, zu der Salander widerwillig ein besonderes Verhältnis aufbaut. "Das Mädchen ist wie eine Brücke zwischen ihr selbst und der Vergangenheit", geht es Salander durch den Kopf – ob sie das will oder nicht, damit hadert die sonst so entschlossene Figur.
Buchtipp: Karin Smirnoff. Verderben. Heyne, 464 Seiten, 24 Euro.