Auf den ersten Blick geht vor dem Wiener Happel-Stadion alles seinen gewohnten Gang, Menschenmassen drängen aus der U-Bahn, vor den Bierständen bilden sich Schlangen, ebenso vor den Merchandising-Buden mit den überteuerten Produkten. Doch bereits das hohe Aufgebot an Polizeikräften deutet darauf hin, dass es kein üblicher Konzertabend wird.
Rammstein sind in der Stadt und geben am Mittwoch und Donnerstag zwei ausverkaufte Stadionkonzerte. Seit zwei Monaten steht Frontmann Till Lindemann in der Kritik wegen sexualisierter Gewalt gegen Frauen, in Deutschland wird gegen ihn ermittelt.
Deshalb hatten einige Gruppen zu einer Protestveranstaltung geladen, nach 17 Uhr haben sich etwa 500 Menschen gegenüber vom Stadion eingefunden, um zu protestieren. Später wurden es mehr, laut Veranstaltern sollen es schließlich 1800 gewesen sein.
In den Händen halten sie Schilder: "Wo bleiben die Konsequenzen?", "Love Heavy Metal – Hate Sexism". Organisiert wurde das Ganze unter anderem von der Plattform #aufstehen. Regisseurin und Aktivistin Katharina Mückstein erzählte, dass sie noch am Vorabend als "dumme Feministin" beschimpft worden sei. Sie hielt eine Ansprache: "Warum sind wir hier? Um Opfern sexualisierter Gewalt den Rücken zu stärken. Die Sicherheit unserer Körper ist nicht viel wert." Im Hinblick darauf, dass die Veranstaltung nicht abgesagt wurde, kritisierte sie den Veranstalter Arcadia und die Stadt Wien: "Es geht nur um den Cashflow und das ist beschämend." Mückstein sprach über den "Mut, Übergriffe anzusprechen". Es müsse "einen moralischen Kompass jenseits des Rechtssystems geben. Hört endlich auf zu fragen, was wir anhaben."
Später folgen "Haut ab!"-Chöre Richtung Stadion und eine Rednerin sagte: "Die größte Waffe der Täter ist unser erzwungenes Schweigen." Um 19 Uhr war die Demo vorüber. Alles lief friedlich ab, nur einige Zwischenrufe von Konzertbesuchern mussten sich die Demonstrierenden gefallen lassen. Wir fragten auch bei einigen weiblichen Rammstein-Fans, was sie von den Vorwürfen und der Musik halten.
Einige FPÖ-Politikerinnen und -Politiker zeigten sich auf den sozialen Netzwerken bewusst als Rammstein-Fans. Die Salzburger LH-Stellvertreterin Marlene Svazek ließ wissen: "Ich fürchte mich nicht." Der Beitrag auf ihrer Instagram-Seite stammt allerdings aus dem Jahr 2022.
Beim Konzert selbst wähnte man sich dann in einem Paralelluniversum. Nichts war zu spüren von den Ereignissen draußen vor der Tür oder draußen in der Welt. 50.000 Menschen - übrigens gut die Hälfte davon Frauen - jubelten Lindemann & Co zu, der mit keiner Silbe auf die Vorwürfe gegen ihn einging. Auch provokante Umdichtungen von Songzeilen, wie bei anderen Konzerten, ersparte er sich in Wien. Mehr als zwei Stunden dauerte die gewohnt üppige Show, sie verlief ohne Zwischenfälle.
Geboten wurde die übliche Mischung aus Metal-Marschmusik und Pyro-Spektakel. Viel Licht und Rauch, noch mehr Feuer, dazwischen ein Best-Of-Songprogramm mit den umjubelten optischen Höhepunkten: Zu "Puppe" fährt Lindemann den riesigen Kinderwagen auf, bei "Mein Teil" wütet er als irrer Kannibale mit blutigem Kittel, der seinen Mitmusiker Flake mit Flammenwerfern im Riesenkochtopf flambiert.
Lust, Laster und Gewalt in allen Schattierungen tauchen in den Rammstein-Liedern auf: Sadismus, Sexismus, Pädophilie, Kannibalismus. Das war schon immer so, ja. Und diese Tabubrüche machen vermutlich für viele den dunklen Reiz von Rammstein aus. Außerdem gibt es ja noch das Hintertürchen der Ironie. Was auch immer gesagt wird, eigentlich ist das Gegenteil davon gemeint.
"Business as usual" also beim Wiener Konzert. Die "Sonne" geht gegen Ende auf, dann fliegt als erste Zugabe der "Engel" ein, Lindemann spielt als Flammen-Pfau noch einmal mit dem Feuer - und sagt dann "Adieu". 50.000 Menschen, Frauen und Männer, jubeln. Und draußen vor dem Stadion werden die letzten Protest-Plakate weggeräumt. Auf einem davon ist ein Engel mit zerbrochenen Flügeln zu sehen.
ORF-Reporter berichtet unter Polizeischutz
Antisemitische Beschimpfungen und körperliche Attacken: Nach dem gestrigen Rammstein-Konzert im Happel-Stadion in Wien gingen einige Fans auf die ORF-Reporter los. Mehr dazu hier.
Gerichtserfolg gegen YouTuberin
Unterdessen haben Lindesmanns Anwälte vor dem Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen die Influencerin Kayla Shyx erwirkt. Wie diese am Dienstag mitteilten, habe das Gericht mehrere Kernvorwürfe von Kayla Shyx als "prozessual unwahre Tatsachenbehauptungen" gewertet und bestimmte Passagen des Videos verboten, etwa die Behauptung, dass Mädchen bei Rammstein-Konzerten unter Drogen gesetzt worden seien. Die 21-Jährige hatte im Juni mit ihrem Video nach dem Besuch eines Rammsteinkonzerts die Vorwürfe gegen Lindemann ins Rollen gebracht.